Lieber Jul Dillier, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Obwohl ich ein starkes Bedürfnis nach geregelten Tagesabläufen habe, macht es mir meine Arbeitsrealität meist schwer, feste Rituale und Strukturen einzuhalten, nicht zuletzt, weil ich oft zwischen Österreich und der Schweiz hin und her pendle. Generell bin ich ein ausgesprochener Morgenmensch; ich mag es früh aufzustehen und die ruhigen Morgenstunden für Meditation, Sport und ein sorgfältig zubereitetes Frühstück zu nutzen. Überhaupt hilft mir das Kochen, meinen Tag zu strukturieren. Bis zum Mittag erledige ich meist Büroarbeit, damit ich das hinter mir habe. Die Nachmittage gehören entweder dem Üben und Proben für aktuelle Projekte oder dem Komponieren / Forschen am eigenen Instrument. Die Abende verbringe ich entweder mit dem Besuch von Konzerten oder sehr gerne auch lesend zuhause.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Mir fällt da als Erstes Verbundenheit ein. Ich habe das Gefühl, dass die Lebensrealitäten von uns Menschen immer weiter auseinanderdriften, dass die Tendenz zunimmt, uns in Bubbles zu verlieren. Diese Tendenz gab es wahrscheinlich auch früher schon, aber durch die sozialen Medien hat sich Bandbreite an Informationen über unsere Welt enorm vergrößert. Das hat auch Vorteile, aber es kann dazu führen, dass wir in völligen Parallelwelten leben und das Gefühl von Verbundenheit und das Verständnis anderer Perspektiven und Realitäten abhanden kommt. Die Lösung kann nicht sein, alle auf eine Line zu bringen, sondern die Vielfalt von Meinungen, Wünschen und Bedürfnissen auszuhalten und damit umzugehen. Möglichkeiten des persönlichen Austauschs und Dialogs, Aufbau und Erhaltung von Empathie und gegenseitiger Rücksichtnahme sind daher meiner Meinung nach wichtiger denn je.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Musik, der Kunst an sich zu?
Ich finde das eine sehr schwierige Frage. Ich höre die Frage nach der Rolle oder Aufgabe oder dem Sinn der Kunst sehr oft, natürlich stelle ich sie mir auch regelmäßig selbst. Irgendwie hat sie für mich einen komischen Beigeschmack. Kunst entsteht für mich nicht aus einer Position der politischen oder gesellschaftlichen Pflichterfüllung, sondern ist vielmehr eine sehr persönliche Reaktion auf die Welt und das eigene Leben, das mit dieser Welt in Resonanz steht. Sie entsteht aus der Notwendigkeit, seinen Gefühlen und Empfindungen eine Form zu geben. Und dem Bedürfnis, diese in Form gegossenen Empfindungen mit anderen Menschen zu teilen. KünstlerInnen sind somit vielleicht in dem Sinne wichtig, dass sie feine Antennen haben, dass sie eine Art von sinnlichen Seismografen sind, die sehr sensibel auf den Ist-Zustand der Welt reagieren. Gerade die Musik ist eine sehr abstrakte, sehr intuitive Form des Ausdrucks, weil sie weder mit Worten noch mit Bildern arbeitet und nicht greifbar ist. Und das macht sie für mich so wertvoll: man kann nicht so sehr darüber reden, was sie aussagt oder bedeutet, sondern nur, was sie in einem selbst auslöst.
Ich glaube, Kunst kann ein Ort sein, um uns als fühlende Wesen auszudrücken und darüber auszutauschen, was die Welt mit uns macht. Und dieser Austausch kann Verbundenheit schaffen. Kann helfen, uns als Teil der Welt zu begreifen und zu erleben.
Was liest Du derzeit?
‚Verschiebung im Gestein‘ von Mariann Bühler
‚Deeper Mindfulness‘ von Mark Williams und Danny Penman
Gerade fertig gelesen: ‚Verletzlichkeit macht stark‘ von Brené Brown
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Zerreiss deine Pläne
Sei klug, und halte dich an Wunder
Jage die Ängste fort,
und die Angst vor den Ängsten
(Mascha Kaléko)
Vielen Dank für das Interview, lieber Jul, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Musik-, Kunstprojekte und persönlich alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen: Jul Dillier, Musiker und Klangkünstler
Zur Person/über mich: Jul Dillier ist Musiker und Klangkünstler und lebt in Wien. Er wuchs in der Zentralschweiz auf und studierte Jazzklavier und improvisierte Musik in Luzern, Basel und Linz. Seine Projekte bewegen bevorzugt sich in Grenzbereichen zwischen Improvisation und Komposition, Geräusch und Ton, Wort und Musik, Konzert und Performance, Klang und Stille. Derzeit ist er in der Schweiz als Musiker und Performer im Theaterstück „Ob das Glück stets hinter Wolken“ über die Dichterin Mascha Kaléko zu sehen. Weitere aktuelle Projekte sind: Chuffdrone, other:M:other, Ei Gen Klang und sein Soloprojekt solétudes.
Foto: privat
Walter Pobaschnig _ 24.10.2024