„je mehr ihr tanzt desto weniger tot fühlt ihr euch“ Ralph Michael Stieber, Schriftsteller _ Berlin 25.10.2024

Lieber Ralph Stieber, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Kaffee und dazu ein paar Seiten Gedichte lesen. Mit meinem Hund in den Park gehen und andere Hunde anpöbeln (bin überzeugt, mein Hund ist die Wiedergeburt von Kinski). Frühstücken. 2-3 Stunden an Gedichten schreiben. Mails beantworten. Auf Stipendien bewerben. Mäzene suchen und umgarnen. Viel lesen. Viel Musik hören, zu wenig Musik machen. Gedichte überarbeiten. Mit dem Hund raus, Revier markieren. Lesen bis ich einschlafe und davon träumen, 100 Jahre früher geboren zu sein und mit Ginsberg, Kerouac und Burroughs um die Häuser ziehen. Diese Routine wird in unregelmäßigen Abständen aufgepeppt durch: Essengehen mit meiner Frau, Theater, Kino und Konzerte.

Ralph Michael Stieber, Autor, Poet, Storyteller

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Nicht durchdrehen, während die Welt am Durchdrehen ist. Sich in die Kunst retten und erkennen, warum nur die Kunst (Literatur, Musik, Theater usw.) uns gerade in solchen Zeiten, Halt gibt und nicht die Politik, nicht die Nachrichten, nicht Social Media, nicht Trash-TV – nein, nur die Kunst schafft es uns mit dem Wesentlichen zu verbinden: unserer Menschlichkeit, unseren Emotionen, unseren tiefsten Gedanken – und sie zeigt uns, dass es inmitten des Chaos immer noch etwas Echtes, Ehrliches und etwas tief Berührendes gibt.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Ein Aufbruch und Neubeginn erfordert sowohl gesellschaftlich als auch persönlich ein Innehalten – eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem, was hinter uns liegt, und eine Vision für das, was kommen soll. Wesentlich wird sein, dass wir den Mut finden, neu zu denken, bestehende Strukturen zu hinterfragen und Raum für Empathie, Kreativität und Wandel schaffen.

Hier kommt der Literatur und der Kunst eine zentrale Rolle zu: Sie eröffnen uns neue Perspektiven, fordern uns heraus, uns selbst und die Welt kritisch zu betrachten und geben uns gleichzeitig die Freiheit, Utopien zu entwerfen. Kunst schafft Verbindung und Identität in Zeiten des Wandels und kann uns gerade in den Momenten des Zweifels den Weg weisen, indem sie Fragen aufwirft, auf die es keine einfachen Antworten gibt.

Was liest Du derzeit?

Ich lese oft in dieser Dreier-Konstellation: Biografie / Poesie / Roman. Im Moment:

Eine turbulente Biografie über die Dichterin Anne Sexton. Eine Anthologie mit Persona Poems: „A Face to meet the Faces“, als Inspiration für meinen nächsten Gedichtband „Animal Kingdom“ (über den Abgrund in uns Menschen) und den Roman „Gelächter im Dunkel“ von Vladimir Nabokov.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Ich ergreife die Chance und wähle einen Auszug aus dem Gedicht „musikkörper“ von meinem kommenden Gedichtband „Wir waren hier“:

warum tanzt ihr nicht fragt der mann das junge paar

in der story von raymond carver warum tanzt ihr

nicht und das runde schwarze stück vinyl dreht sich

die nadel senkt sich und nach einem knacken und einem

knistern erklingt musik und sie beginnen zu tanzen

im garten in einem kleinen amerikanischen vorort

in einer zeit in der fassaden frisch gestrichen waren tanzt

es ist egal was die leute denken tanzt

zu beethoven zu blues zu rap zu punk tanzt

je mehr ihr tanzt desto weniger tot fühlt ihr euch

je mehr ihr tanzt desto mehr fühlt ihr euch tanzt

Vielen Dank für das Interview, lieber Ralph MIchael, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen: Ralph Michael Stieber, Autor, Poet, Storyteller

Zur Person/über mich: Ralph Michael Stieber, geboren in Aschaffenburg, ist ausgebildeter Schauspieler. Nach fast zehn Jahren auf der Bühne und vor der Kamera wechselte er in die Werbebranche und arbeitete als Texter für verschiedene Agenturen. Gemeinsam mit seiner Partnerin gründete er 2018 die Storytelling-Agentur Story Berlin. Er ist Autor von drei erzählenden Sachbüchern (erschienen im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag), zwei Fachbüchern (Vahlen / C. H. Beck) und zwei Theaterstücken. Seine Gedichte und Stories wurden in zahlreichen Literaturmagazinen und Anthologien veröffentlicht. Er erhielt ein Stipendium des Literaturhauses Pazin in Kroatien und wurde mehrfach für seine Arbeit als Texter ausgezeichnet. Wenn er nicht in Europa unterwegs ist, lebt er in Berlin.

ralphstieber.com

Aktuelle Bucherscheinung: Ralph Michael Stieber: Wir waren hier


Wir waren hier – Gedichte, wie Graffiti
auf den Wänden der Zeit

In seinem Lyrik-Debüt nimmt uns Ralph Michael Stieber mit auf eine Reise durch die Höhen und Tiefen der Jugend, die Herausforderungen des Erwachsenwerdens und das intensive Leben in der Großstadt. In den Gedichten begleiten wir verschiedene Menschen durch
extreme Situationen und alltägliche Momente. Er erzählt uns kleine Geschichten – Momentaufnahmen, die das Leben in all seiner Widersprüchlichkeit und Intensität einfangen. Gedichte, die Spuren hinterlassen

Die Gedichte in Wir waren hier sind wie Graffiti auf den Wänden der Zeit: Sie hinterlassen Spuren. Sie erzählen von den Menschen, die unser Leben prägen, von denen, die in uns Erinnerungen und Narben zurücklassen. Der Dichter gibt diesen Menschen eine Stimme – denen, die uns nah waren und denen, die wir vielleicht nur kurz getroffen haben, die aber dennoch ihre Spuren hinterließen. Stieber hat aus solchen Spuren Poesie gemacht. Gedichte, die wirken wie ein komprimierter Roman oder eine Serie voller Wendepunkte, in denen die Charaktere eine Veränderung durchlaufen.

Stieber widmet sich in seinen Gedichten sowohl den großen Fragen des Lebens als auch den kleinen, oft übersehenen Augenblicken, die unser Dasein formen. „Ich schreibe Gedichte, die Geschichten erzählen. Geschichten, die uns daran erinnern, dass wir existieren, fühlen und dass das, was wir in anderen zurücklassen, Bedeutung hat“, sagt Stieber.

In Gedichten wie Teen Spirit beschreibt Stieber diese jugendliche Energie und Verwirrung:
„Unsere Wut war eine Patronenkugel mit Schmetterlingsflügeln auf dem Skateboard
schwebend.“ Es ist die Zeit, in der das Leben seltsam einfach, aber auch unberechenbar sein konnte – eine Zeit voller Überraschungen, Schmerz und Wunder. Das Erwachsenwerden wird nicht als linearer Prozess dargestellt, sondern als ein Mosaik aus Erfahrungen, das sich im Rückblick nur teilweise entschlüsseln lässt.


Auch die urbane Existenz spielt in Stiebers Werk eine zentrale Rolle. In Berlin Blues vergleicht er die Stadt mit einer „Prinzessin gefangen im Körper eines Proleten“. Diese Metapher fängt die Widersprüche des urbanen Lebens ein – die ständige Spannung zwischen Schönheit und Trash, zwischen Chaos und Ordnung.

Gedichte, die man versteht – und von denen man sich verstanden fühlt Stiebers Metaphern und Sprachbilder sind zugänglich und verständlich – seine Gedichte sprechen direkt zu uns, als ob sie nicht nur für ihn selbst, sondern auch für die Leser:innen geschrieben wären, die in ihnen ein Stück von sich selbst entdecken können. „Gedichte können zugänglich und direkt sein, ohne dabei an Tiefe zu verlieren – genau das versuche ich in Wir waren hier umzusetzen“, betont Stieber. Wer nach moderner Poesie sucht, die Geschichten erzählt und Emotionen weckt, wird hier fündig. Ein Gedichtband, den man nicht nur lesen, sondern auch erleben kann.

Wir waren hier ist eine Hommage an die Komplexität des Daseins und an die Spuren und
Narben, die wir in anderen und in der Welt hinterlassen – und die andere in uns hinterlassen.

(Presseinfo)

https://www.stadtlichterpresse.de/ueberuns.html

Ralph Michael Stieber, Wir waren hier, Gedichte
Verlag: Stadtlichter Presse, Buxtehude (ET: 22. November 2024)
Taschenbuch, 98 Seiten
ISBN-13 978-3-947883-45-5, € 14 (D

Foto: privat

Walter Pobaschnig _ 24.10.2024

https://literaturoutdoors.com

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