Station bei Milena _ „Sie sind allein? Tag und Nacht?“ Mara Christine Koppitsch, Schauspielerin _ Wien 18.9.2024

Station bei Milena Jesenska  und Franz Kafka _
Mara Christine Koppitsch, Schauspielerin, Musikerin _Wien_performing


80.Todesjahr _ Milena Jesenská (10.August 1896 Prag + ermordet 17.Mai 1944 KZ Ravensbrück) _Journalistin, Schriftstellerin, Übersetzerin

100.Todesjahr Franz Kafka * 3.Juli 1883 Prag
+ 3.Juni 1924 Kierling/Klosterneuburg (AUT) _ Schriftsteller

Fotos _ am Wohnort Milena Jesenskas in Wien.
Franz Kafka war hier im Sommer 1920 für 4 Tage zu Gast.
Milena Jesenská (10.August 1896 Prag + ermordet 17.Mai 1944 KZ Ravensbrück) _
Journalistin, Schriftstellerin, Übersetzerin
Franz Kafka, Schriftsteller _
100.Todesjahr Franz Kafka * 3.Juli 1883 Prag+ 3.Juni 1924 Kierling/Klosterneuburg (AUT) _ Schriftsteller

Zum Projekt: Das Literatur outdoors Projekt „Station bei“ ist ein interdisziplinäres Kunstprojekt an den Schnittstellen von Literatur, Fotografie und Theater/Performance.

Dabei kommt den topographischen und biographischen Bezügen eine besondere Bedeutung zu, indem Dokumentation, Rezeption und Gegenwartstransfer, Diskussion ineinandergreifen.

Künstler:innen werden eingeladen an diesem Projekt teilzunehmen und in ihren Zugängen Perspektiven zu Werk und Person am biographischen bzw. werksgeschichtlichen Bezugsorten beizutragen.

Mara Christine Koppitsch, Schauspielerin, Musikerin _Wien

Liebe Mara Christine Koppitsch, Schauspielerin, Musikerin, welche Zugänge gibt es von Dir zu Franz Kafka und Milena Jesenska?

Milena Jesenska habe ich tatsächlich erst vor kurzem „kennengelernt“. Sie macht einen äußerst sympathischen Eindruck auf mich – wir sind nahezu Nachbarinnen und werden uns von nun an öfter auf einen Kaffee treffen 😉.

Milena beeindruckt mich. Gelesen habe ich zwar noch nicht viele Zeilen von ihr, aber nach etwas Recherche über sie als Person kann ich eine Powerfrau mit Gerechtigkeitssinn erkennen. Schon als junges Mädchen in Prag musste sie einen inneren Drang verspürt haben – gesehen zu werden, geliebt zu werden, sich aus dem sozialen Korsett zu befreien. Letzteres hatte, wie man es aus dem Briefwechsel erlesen kann, auch seine unangenehmen Folgen…

Durch die Heirat mit Ernst Polak nach Wien übersiedelt, mit Geldnöten und vielen Ängsten konfrontiert wollte sie sich auf die eigenen Beine stellen. Die Texte von Kafka hatten sie angesprochen – umso wertvoller dürfte der Austausch mit dem „echten“ Kafka für sie gewesen sein. Die Briefe vermitteln eine schwierige Beziehung zwischen Milena und ihrem Ehemann Ernst.


Gerne würde ich den Moment miterleben in dem Milena und Kafka sich das erste Mal begegneten…

(Prag, 4. bis 5. Juli 1920)

Sonntag 1/2 123) Ich nummeriere, wenigstens diese Briefe, keiner darf
Dich verfehlen, so wie ich Dich nicht verfehlen durfte in dem kleinen Park.

…und die Szene sehen als Kafka (am Ende der Kräfte) seine Tagebücher an Milena übergab.


Das was Milena nach Kafkas Tod für viele von der Gesellschaft unterdrückten Personen leistete, ist unfassbar mutig und lehrt mich demütig zu sein.

Wir sind hier am Lebensort Jesenskas, an dem auch Kafka zu Gast war. Welche Eindrücke hast Du vom Haus/Umfeld hier?

Die Lerchenfelder Straße kenne ich gut. Ich spaziere hier oft entlang, da diese breite Straße in der Nähe meiner Wohnung liegt. Kafka beschreibt bereits 1923 den Lärm der Straße. Wie er den (mit Sicherheit angestiegenen) Lärmpegel heute wohl empfinden würde? Ich stelle mir vor, dass Franz mit Milena schnell in die Wohnung geflüchtet wäre. Vorausgesetzt Ernst wäre nicht zuhause.

Das Haus Nr. 113 liegt unscheinbar. Zuerst daran vorbeigelaufen, wäre ich beinahe zu spät zu unserem Fotoshooting gekommen. Endlich angelangt, übt die Eingangstüre sogleich ihren Altbau-Charm auf mich aus. Wie konnte ich das Gebäude nur übersehen?  Auch im Gebäude gibt es einiges zu entdecken.

Eine kleine gewundene Steintreppe führt einen Halbstock nach unten, im Anschluss gelangt man durch einen kurzen dunklen Gang in einen kleinen, schmalen Hof. Eine kafkaeske Atmosphäre ist wahrnehmbar… Schummrig, dunkel, alt – Treppe und Gang. Der enge Hof mit hohen Mauern der mich fast verzweifeln lässt aber… Da! Grünes Gewächs rankt sich nach oben und ich kann zum blauen Himmel blicken. Diese neue Perspektive gibt kurze Zeit Hoffnung. Jedoch… Werde ich diese Gemäuer jemals bezwingen können? Sind die Mauern nicht zu hoch, der Gang zu finster? Einsamkeit macht sich breit.

Entscheidet man sich der gewundenen Treppe hoch in die oberen Stöcke zu folgen, wird man einen gemusterten Fliesenboden erkennen. Die Farben des Bodens – warme Töne in Rot, sandfarben und braun – passen wundersamer Weise perfekt zu meiner „Milenas“ Kleidung. Die Enge des Stiegenhauses symbolisiert die beengende Beziehung zwischen Milena Jesenska und Ernst Polak…


Ich stelle mir vor als Milena in das Haus zu kommen, ich gehe durch das Treppenhaus hinauf, ich frage mich – wird Ernst zuhause sein? Hat er wieder schlechte Laune?  Wird die Geliebte anwesend sein? Im zweiten Stock angelangt, atme ich kurz durch, Stecke den Schlüssel ins Schlüsselloch, drehe ihn langsam um, drücke behutsam die Türe auf und betrete die Wohnung…  Ein leichtes Schaudern läuft mir über den Rücken.

Briefausschnitt von Franz Kafka:

(Meran, Mai 1920)

Sie sind sehr sonderbar Frau Milena, Sie leben dort in Wien, müssen dies und jenes leiden und haben dazwischen noch Zeit sich zu wundern, daß es andern, etwa mir, nicht besonders gut geht und daß ich eine Nacht ein wenig schlechter schlafe als die vorige.

(Meran, 10. Juni 1920)

(…) Aber das alles ist unwichtig gegenüber einem Einfall, den ich heute früh beim Aus-dem-Bettaufstehn hatte und der mich so bezauberte, daß ich gewaschen und angezogen war, ohne zu wissen wie und daß ich auf die gleiche Art mich auch noch rasiert hätte, wenn mich nicht ein Besuch (der Advokat, welcher die Fleischnahrung für notwendig hält) geweckt hätte. Es ist kurz folgendes: Sie gehen für eine Zeit von Ihrem Manne fort, das ist nichts neues, es ist ja schon einmal so gewesen. Die Gründe sind: Ihre Krankheit, seine Nervosität (Sie schaffen auch ihm Erleichterung) und endlich die Wiener Verhältnisse.

Wie siehst Du den Briefwechsel und die Beziehung beider?

„Ich habe noch einmal den Sonntagsbrief gelesen, er ist doch schrecklicher als ich nach dem ersten Lesen dachte. Man müßte Milena Ihr Gesicht zwischen beide Hände nehmen und Ihnen fest in die Augen sehn damit Sie in den Augen des andern sich selbst erkennen und von da an nicht mehr imstande sind, Dinge wie Sie sie dort geschrieben haben, auch nur zu denken.“ (Kafka, Briefe an Milena)

Kafka bzw. Kafkas Texte waren im Jahr 1920 eine Zuflucht für Milena Jesenska. Dies beruhte gewiss auf Gegenseitigkeit. Leider sind die Briefe von Milena an Franz aus diesem Briefwechsel nicht erhalten. Der Austausch der beiden bestand einerseits aus dem Bedürfnis selbst gesehen und ernstgenommen zu werden und andererseits aus dem Verlangen den anderen in seiner Tiefe verstehen zu wollen. Diese beiden Aspekte hielten sich die Waage, beide waren bereit zu geben und bekamen vom Anderen zurück. Zwar liegen nur Kafkas Briefe vor, jedoch wird in seinem Schreiben, eine Kommunikation auf Augenhöhe sichtbar. Seine „Feinstofflichkeit“ Milena gegenüber tritt klar zu Tage. Neben der Ernsthaftigkeit und Tiefe ist in Kafkas Briefen durchaus (s)ein Augenzwinkern zu erkennen.

Kafkas feiner Humor bringt mich und Milena zum Schmunzeln.

Ausschnitte aus Kafkas Briefen:

(Meran, 4. Juni 1920)

Freitag

Zunächst, Milena: was ist das für eine Wohnung, in der Sie Sonntags geschrieben haben?Weitläufig und leer? Sie sind allein? Tag und Nacht? Das muß allerdings trübselig sein dort allein an einem schönen Sonntagnachmittag einem » fremden Menschen« gegenüber zu sitzen, dessen Gesicht nur »beschriebenes Briefpapier« ist. Wie viel besser habe ich es! Zwar ist mein Zimmer nur klein, aber die wirkliche Milena ist hier, die Ihnen Sonntag offenbar entlaufen ist, und, glauben Sie es, es ist wunderbar bei ihr zu sein.

(Meran, 4.Juni 1920)

Freitag

Heute gegen abend habe ich, eigentlich zum erstenmal, allein einen größeren Spaziergang gemacht, sonst bin ich mit andern Leuten gegangen oder, meistens, zuhause gelegen. Was für ein Land ist das! Du lieber Himmel, Milena, wenn Sie hier wären, und du armer denkunfähiger Verstand! Und dabei wäre es eine Lüge, wenn ich sagte, daß ich Sie vermisse, es ist die vollkommenste, schmerzhafteste Zauberei, Sie sind hier, genau wie ich und stärker. wo ich bin, sind Sie wie ich und stärker. Es ist kein Scherz, manchmal denke ich mir aus, daß Sie, die Sie ja hier sind, mich hier vermissen und fragen: »Wo ist er denn? Schrieb er nicht, daß er in Meran ist?«

F

Meine zwei Antwortbriefe haben Sie bekommen?

Was lässt Liebe wachsen, was Liebe untergehen?

Eine komplexe Frage. Eine knappe Antwort.

Wachstum?
Hören – zuhören – ernstnehmen.
Freiräume für- und miteinander schaffen.
Humor.

Untergang? Erwartungen. Der eigene blinde Fleck.

Wann bist Du erstmals mit den Texten Kafkas in Berührung gekommen und welche Aussagen gibt es da für Dich?

Das erste Mal „Kafka“ stand im Gymnasium am Plan. „Die Verwandlung“ ist denke ich Bestandteil des Schulkanons. Die Enge und das Ausgeliefert-Sein werden durch Kafka meisterhaft vermittelt. Bereits in der Schulzeit erzeugten seine Beschreibungen Unbehagen in mir und das ist im Gedächtnis geblieben. In Kafkas Texten wird oft die Frage nach Gerechtigkeit aufgeworfen. Die Abhängigkeiten des Individuums von und in unserer Gesellschaft werden thematisiert. Der technische Fortschritt, welcher damals bereits rasant zunahm, hatte sein Schreiben eklatant beeinflusst. Er beschäftigt uns heute noch. Außerdem spielte das Scheitern für Kafka eine wichtige Rolle. Diese Thematik finde ich persönlich besonders spannend, vor allem wenn man den Blick auf seine unvollendeten Romane richtet. Ich beschäftigte mich deshalb die letzten Wochen mit „der Prozess“ und seinem Amerika-Roman „der Verschollene“. Meine Frage: Wäre hier ein „offizielles Ende“ notwendig gewesen?


Außerdem nehme ich in Kafkas Texten etwas schelmisch-komisches wahr, dieser Aspekt rückt bei Beschäftigung mit seinem Werk oftmals in den Hintergrund.
Zu guter Letzt: Der phantastische Aspekt Kafkas. Seine Geschichten sind wie aus
(Alb-)Träumen gewebt.
Kafkaesk.

Manchmal habe ich den Eindruck, wir hätten ein Zimmer mit 2 gegenüberliegenden Türen und jeder hält die Klinke seiner Tür und ein Wimperzucken des einen, schon ist der andere  hinter seiner Tür und nun braucht der erste nur noch gar ein Wort zu sagen dann hat der zweite schon gewiß die Tür hinter sich geschlossen und ist nicht mehr zu sehn. Er wird ja die Tür wieder öffnen, denn es ist ein Zimmer, das man vielleicht nicht verlassen kann. Wäre nur der Erste nicht genau so wie der Zweite, wäre er ruhig, sähe er scheinbar lieber gar nicht hin zum zweiten, brächte er das Zimmer langsam in Ordnung als sei es ein Zimmer wie jedes andere, statt dessen tut er genau das gleiche bei seiner Tür, manchmal sind sogar beide hinter den Türen und das schöne Zimmer ist leer. (Kafka, Briefe an Milena)

Wie hast Du Dich auf das Fotoshooting/die Performance vorbereitet?

Zu Beginn habe ich mir die „Briefe an Milena“ besorgt. Der Briefwechsel wird sogar im Internet als Download bereitgestellt – sehr zu empfehlen. Im Anschluss habe ich die Briefe durchgesehen und mir Textstellen herausgepickt mit denen ich mich näher befasste. Fotos von Milena sind schwer zu finden, ich habe mich also vor allem von den Briefen, der Zeitgeschichte und meiner eigenen Vorstellung inspirieren lassen. Ein paar Inputs gab mir zusätzlich die (meiner Meinung nach) gelungene neue Serie „Kafka“ (Regie: David Schalko).

Gab es bisher schon Kafka Projekte für Dich?

Bei Performance und Lesung war Kafka mit im Repertoire.

Gerne wieder! Offen für neue Kafka Projekte.

Was sind Deine nächsten Projektpläne?

Jetzt wird erst noch eine Runde Shakespeare „HENRY V“ auf Schloss Artstetten (NÖ) gespielt. Nebenbei werden Kolleg*innen und ich an unserem Nietzsche Projekt – eine multimediale Performance -weiterarbeiten. Dann stehen bald neue Theaterproben am Plan.

Darf ich Dich abschließend zu einem „Milena  Franz“ Akrostichon bitten?

M erke

I nnen

L iebe

E inander

N ehmen

A bends


F lüchtig

R ilke

A bgründe

N ehmen

Z art

Herzlichen Dank, liebe Mara!

Mara Christine Koppitsch und Walter Pobaschnig 5/24

Alle Fotos&Interview _ Walter Pobaschnig 5/24

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