Lieber Alexander Estis, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Das kommt ganz auf den Tag an: An dem einen ist mein Tagesablauf völlig ungeregelt, am nächsten komplett chaotisch, am dritten absolut durcheinander und am vierten gönne ich mir eine Pause von dieser Routine und lebe einfach in den Tag hinein…

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Angesichts von Krisen, Kriegen, Katastrophen – der Angst davor, was kommen mag, ins Auge zu sehen, uns aber nicht von dieser Angst beherrschen zu lassen. Angesichts von Populismus, Propaganda und Partikularismus – für die eigenen Positionen, aber einander nicht die Köpfe einzutreten. Angesichts von Unterhaltungsmedien, Unterforderungsspiralen und Unterkomplexität: »Stop making stupid people famous!«
Und angesichts solcher Patentrezepte von irgendwelchen Schriftstellern – alles Simple zu hinterfragen. Die größten Lügen der Menschheit sind triviale Wahrheiten.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Wesentlich ist und wird sein, dass der Aufbruch nicht zu einem Abbruch wird – zu einem Abbruch unserer zwischenmenschlichen Beziehungen, unserer vernunftgeleiteten Diskussionen, unserer kulturellen Kontinuitäten, unserer optimistischen Bemühungen – und schöner Interviewserien.
Was ist die Rolle der Kunst in diesem Aufbruch oder diesen Aufbrüchen? Kunst wird die Welt nicht retten. Sie wird keine absolute Gerechtigkeit herstellen. Sie wird die Menschen nicht erziehen. Doch das sind auch nicht ihre primären Aufgaben.
Kunst ist für mich der Ausdruck höchstmöglicher individueller Freiheit des Menschen. Das kann sie allerdings nur dann sein, wenn ihr alle Offenheit zugestanden bleibt, wenn sie gerade dafür geschätzt und geschützt wird, wenn sie ihren eigenen Gesetzen gemäß wirken darf und nicht fremdbestimmt oder instrumentalisiert wird – auch nicht zu »gutem Zweck«. Nur dann konfrontiert sie uns mit der Komplexität, die unserer Welt eignet und deren Missachtung stets mehr Probleme schafft als löst. Und nur dann erhält sie uns diese Freiheit, die der Mensch zum Menschsein braucht – gerade auch für den Aufbruch.
Was liest Du derzeit?
Marcel Lewandowski: Was Populisten wollen
Slata Roschal: Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten
Sind Antisemitisten anwesend? Hg. v. Lea Streisand, Michael Bittner, Heiko Werning
Nasima Sophia Razizadeh: Die Goldwaage
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
»Die Demokratie ist eine Arena der Komplexität. Ressentiments und nicht sublimierte Impulse führen zu einem sektiererischen, gefährlichen Denken in Schwarz und Weiß.« (Cynthia Fleury)

Vielen Dank für das Interview, lieber Alexander, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen: Alexander Estis, Schriftsteller
Zur Person/über mich: Alexander Estis lebt nach erfolgreich abgebrochener Promotion als Autor im freien Fall. Er arbeitet in literarischen Miniaturformen, die für das Auge des großen Publikums zu klein sind. Die Texte in seinem letzten Prosaband FLUCHTEN (edition mosaik, 2023) stellen Übungen in zeitdiagnostischem Eskapismus dar. Als Agent der zionistischen Weltverschwörung ist er für die Lügenpresse tätig. Daneben gibt er Kurse in destruktivem Schreiben. Seine Bescheidenheit verbietet es ihm, die zahlreichen Auszeichnungen und Stipendien zu erwähnen, die er beinah erhalten hätte.
Infos zu aktuellen Veranstaltungen:
Minutentexte _ Szenische Lesung mit Musik
Donnerstag, 19.9.2024 in Wien, im Souterraintheater des Café Prückel 1010 Wien (Stubenring).
Beginn: 19:00 Uhr; Einlass: ab 18:30 Uhr; pay as you can, freie Platzwahl. Es rasen und lesen: Alexander Estis, Anna Fercher, Angelika Reitzer und Stefan Reiser. Am Klavier improvisiert Florin Gorgos.
Zu kurz, um langweilig zu sein – diese Kurztexte entführen Sie im Minutentakt in eine tragische oder komische, realistische oder groteske, aktionsgeladene oder kontemplative Welt. Eine Rennbahn der Literatur, eine Lesung wie eine Karambolage, ein Blitzspiel der Einfälle, Runde für Runde. Als würden Sie mit den Ohren durch ein soziales Netzwerk der Literatur scrollen, hören Sie hier in rasanter Folge entsetzliche Szenen, bissige Glossen, exotische Anekdoten, grämliche Epigramme, übergriffige Aphorismen und vielschichtige Kürzestgeschichten. Schauen Sie in den Rückspiegel, bleiben Sie in der Spur und lassen Sie die Minutentexte überholen, um nicht von ihnen überfahren zu werden!
Rennleitung: Stefan Reiser
Eine Veranstaltung der GAV – Grazer Autorinnen Autorenversammlung, mit freundlicher Unterstützung der Literar-Mechana.
Cocktaillesung Prosa Colada
Freitag, 20.9.2024 in Wien, auf dem Badeschiff, Donaukanal Franz-Josefs-Kai 4, 1010 Wien (Schwedenplatz).
Beginn: 19 Uhr, Eintritt 10 Euro. Es lesen: Alexander Hörl, Anna Fercher, Gregor Schima, Alexander Estis, Stefan Reiser, René Gröger, Max Haberich und Hendrikje Machate.
Literatur trifft Longdrink: Acht Autorinnen und Autoren, acht Texte – und acht Cocktails, die natürlich alle an der Bar bestellt werden können. Das Publikum wird gerührt und geschüttelt!
Fotos: Magnus Terhorst
Walter Pobaschnig _ 16.9.2024