Lieber Peter Wißmann, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Die Augen öffnen und aus dem Fenster schauen: Bricht das erste Sonnenlicht durch die Baumwipfel oder ziehen graue Wolken darüber hinweg? Was immer sich meinem Blick bietet, es ist willkommen. Die frühen Morgenstunden verbringe ich mit meinem Hund am Inn. Beobachte den Lauf des Wassers und das minütlich wechselnde Spiel des Morgenlichts auf den Bergen ringsum, aber ich arbeite auch: Ideen für meine Texte entwickeln, über das nachdenken, was ich am Vortag geschrieben habe, im Kopf an Formulierungen feilen. Und mein kleines Diktiergerät rettet all diese Gedanken vor dem schnellen Vergessen.
Der Vormittag gehört dem Schreiben. Ich schreibe an Manuskripten und anderen Texten, überarbeite sie (immer wieder) oder mache Schreibübungen.
Danach beginnt der andere Teil des Tages mit Einkaufen, Kochen, E-Mails beantworten, Telefonieren, mit anderen Leuten reden und all den Dingen, die unser Leben auch ausmachen.
An manchen Nachmittagen geht das Schreiben weiter, an anderen stehen andere Dinge im Vordergrund. Bei weiteren Spaziergängen mit dem Hund kann sich mein Gehirn erholen, aber fast immer arbeitet es gleichzeitig an meinen aktuellen Schreibprojekten weiter.
Und der Abend? Endlich mal wieder lesen. Romane, Erzählungen, Novellen, Essays, Sachbücher, Artikel und alles, was mich sonst noch interessiert. Es gibt viel davon.
Ach ja: Musik hören natürlich auch! Klassische, aber vor allem zeitgenössische E-Musik (ein unpassendes Wort, ich weiß).

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Stopp sagen. Den Fuß vom Gas nehmen. Sich umschauen und genau beobachten, was um uns herum passiert. Augen und Ohren weit öffnen und auf Empfang stellen. Hören, was die Menschen denken, fühlen und sagen. Vor allem die, die nicht in unserer Blase leben, sondern sich in ihren eigenen, oft ganz anderen Welten bewegen. Die Fähigkeit des Beobachtens, des Zuhörens und des Aufeinander-Zugehens scheint uns in den letzten Jahren verloren gegangen zu sein. Aber ohne all das wird es nicht gehen, verlieren nicht nur die Künste ihren Bezugsrahmen, sondern erfährt auch die Gesellschaft immer stärkere Erosionsprozesse. Ende offen.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Wir brauchen auf allen gesellschaftlichen Ebenen einen Ruck, einen Neustart, der sich zum Ziel setzt, die Aufmerksamkeit wieder auf das Verbindende, auf den Dialog, auf das gemeinsame Handeln zu lenken, statt sich am Trennenden, am Ausgrenzenden, am Verschanzen in getrennten Welten zu ergötzen. Das kann keine abstrakte ‚Gesellschaft an sich‘ (was genau soll das sein?), dazu muss jeder Einzelne als Teil dieser Gesellschaft seinen Beitrag leisten.
Literatur und Kunst können in diesem Prozess die Rolle spielen, die ihnen seit jeher zukommt (oder zukommen sollte). Max Frisch hat dies in seinem Text „Schwarzes Quadrat“ an einem Beispiel verdeutlicht.
Zu Zeiten der Sowjetunion weilte ein Botschafter in geschäftlichen Angelegenheiten in Leningrad. Seinem Wunsch, die verborgenen Kunstwerke der Eremitage zu sehen, wurde erstaunlicherweise entsprochen. Und so zeigte ihm eine Funktionärin das berühmte schwarze Quadrat von Malewitsch. Der Botschafter sagte:
Sie brauchen doch Malewitsch nicht im Keller zu verstecken, das Volk würde ihn gar nicht ansehen!
Die Dame lachte. Sie irren sich – das Volk könnte nicht verstehen, wozu dieses schwarze Quadrat, aber es würde sehen, dass es noch etwas anderes gibt als die Gesellschaft und den Staat.
Nichts muss so sein, wie es ist! Es geht auch anders!
Die utopische Kraft der Literatur und der anderen Künste ist in unserer unruhigen Zeit notwendiger denn je. Sie kann aber nur wirken, wenn es ihr gelingt, die Sphäre der Eingeweihten zu transzendieren und auch jene zu erreichen, denen bisher der Bezug zu ihr fehlt.
Wie das funktionieren kann, weiß vermutlich niemand genau. Aber wir sollten vermehrt darüber nachdenken. An Fantasie mangelt es der Kunst schließlich nicht!
Was liest Du derzeit?
„Oktoberkind“ von Linda Boström Knausgard. Weil sie hier unerschrocken und höchst poetisch ihren Weg als Frau und Schriftstellerin beschreibt.
„Die Imker“ von Gerhard Roth. Weil es hier um das Wesen des Menschen, seinen Umgang mit der Natur und andere zentrale Fragen für die Gesellschaft und für jeden von uns geht.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen“.
Friedrich Nietzsche

Vielen Dank für das Interview, lieber Peter, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literatur-, Buchprojekte und persönlich alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen: Peter Wißmann, Schriftsteller
Zur Person: Peter Wißmann, Autor. Lebt und schreibt in Innsbruck. Lange Zeit als Altersexperte tätig, schrieb in diesem Kontext mehrere Sachbücher und war Herausgeber eines deutschsprachigen Magazins.
Viele Jahre lang Haiku-und Haiga-Dichter, zwei Haiku-Bücher, regelmäßige Veröffentlichungen im In- und Ausland
Prosastudium an der Autorenschule Textmanufaktur. Weitere Ausbildungsseminare bei Schriftsteller*innen.
Schreibt Erzählungen und andere Prosa.
2024: Buch „Überschattet“ (Debut als Autor literarischer Prosa).
Aktuell Arbeit an einem Roman.
Ab November 2024 Leiter der Schreibwerkstatt „Wortzauber“ in Innsbruck.
Aktuelles Buch von Peter Wißmann:

Zwei berührende Erzählungen über die Schatten, die Demenz auf Beziehungen
werfen kann. In der autobiografischen Erzählung „Freunde“ lebt der eine mit der Diagnose Alzheimer, der andere beschäftigt sich beruflich mit Altersfragen. Die beiden Männer tun
sich für ein Buchprojekt zusammen und wollen die Welt ein wenig „aufmischen“. Als die geistigen Fähigkeiten des einen immer mehr nachlassen, nimmt ein gemeinsamer Ausflug eine unerwartete Wendung und stellt die Beziehung der beiden Männer auf eine harte Probe.
„Der Stempel“ erzählt von der 13-jährigen Mila. Ihr Leben ändert sich von einem auf den anderen Tag, als die Demenzdiagnose ihrer Mutter einen Sorgerechtsstreit auslöst. Die Aussicht, aus ihrer Familie herausgerissen zu werden, veranlasst Mila zu einem riskanten Schritt
„Überschattet“ Erzählungen über Demenz. Peter Wißmann
- Umfang: 144 Seiten
- Erscheinungsjahr: 2024
- Bestellnummer: 202656
- ISBN: 9783863216566
- 17,00 €
- https://www.mabuse-verlag.de/mabuse/mabuse-buchversand/ueberschattet-romane-krimis-unterhaltung_pid_863_64211.html
Peter Wißmann zu „Überschattet“: 2024 im Frankfurter Mabuse-Verlag erschienen. Das Buch enthält zwei Erzählungen.
Der Untertitel „Erzählungen über Demenz“ wurde vom Verlag gewünscht. Ich selbst denke, die beiden Erzählungen handeln von Menschen, die sich in Konfliktsituationen befinden und Entscheidungen treffen müssen. In beiden Fällen spielt auch das Thema Demenz bzw. eine Demenzdiagnose eine Rolle. Damit werden die Erzählungen aber nicht zu Erzählungen „über Demenz“.
Es wird Buchlesungen geben, so z.B. in Innsbruck und in Hildesheim.
Fotos: Portrait © Peter Wißmann; Buch Mabuse-Verlag.
Walter Pobaschnig _ 2.9.2024