Liebe Hanna-Linn Hava, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Zuerst falle ich aus einem Traum ins Bett und taste noch blind nach Musik. Ohne die richtige Musik stehe ich nicht auf.

Dann bewege ich mich weiter zwischen Poesie und Alltag durch die Zeit, versuche, die wilden Ideen in meinem Kopf mit handfesten Tätigkeiten zu versöhnen, und tanze zuerst mit den Worten, dann mit der Geschirrspülbürste.

Inzwischen trage ich mit Leichtigkeit mehrere Kleider, das Gewand der Diva und die Schürze der Köchin, das Negligé der Geliebten und die Latzhosen der Großmutter, den Wollpulli der Wanderin und das Nichts der Muse.
Das war nicht immer so. Lange habe ich Masken getragen.

Wenn am Ende des Tages ein paar geschriebene Seiten übrigbleiben und der Küchenboden trotzdem gewischt ist, war es ein besonders guter Tag. Aber irgendetwas Gutes passiert immer.

Und danach mache ich die Musik aus und gehe schlafen.

Autorin und Künstlerin
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Sich nicht erschrecken lassen von der Angst. Denn sie ist gerade überall, die Angst. Die Welt ist überaus plötzlich so groß und schnell und nah geworden, dass wir uns ihr verloren fühlen, und jeder sucht sich ein sicheres Versteck und einen Schuldigen für seine eigene persönliche Angst und will wieder alles klein und verständlich und sicher machen.
Deswegen: Trotzdem die Hände ausstrecken, nach dem, was erst einmal fremd erscheint, zulassen, dass sich die Ängste gegenseitig beschnuppern, neugierig bleiben, freundlich bleiben, und sich dann trauen, Verantwortung zu übernehmen. Für sich selbst und dann vielleicht sogar mindestens ein bisschen für diese Welt. Sie kann Hilfe brauchen. Jetzt besonders.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Wie immer bei Umbrüchen bricht auch etwas auseinander. Die Kunst, egal in welcher Form, baut kleine, bunte Brücken über die Risse, näht die Wunden zu, die beim Stolpern über diese Risse entstanden sind, oder zeigt zumindest auf, wo es gerade Wunden gibt. Besonders wenn die Gesellschaft diese Wunden nicht ansehen will, darf sie ein bisschen lauter werden, die Kunst.
Kunst ist kein Luxus. Kunst ist eine Notwendigkeit. Gerade jetzt, wo die technische Entwicklung so rasant ist, dass benachbarte Generationen in unterschiedlichen Welten leben, kann Kunst eine universelle Ausdrucksform sein, die diese Welten wieder ein Stück verbindet.
Und ich hoffe, dass die Kunst ihre elitäre Rüstung verliert, ohne banal zu werden, dass sie genau das in den virtuellen Gefilden lernt, die sich gerade als großes Abenteuer vor uns auftun, und dass sie nicht darin verloren geht.
Aber sie hat schon Jahrtausende überlebt, die Kunst, und ich glaube deswegen auch fest daran, dass wir uns um sie keine allzu großen Sorgen machen müssen.
Um die Menschheit vielleicht schon eher.
Was liest Du derzeit?
Ich würde gern mehr Romane lesen, aber wenn ich welche schreibe, dann lese ich keine.
Momentan lese ich also nicht nur aus Recherchezwecken das brillante Sachbuch „Womans Lore“ von Sarah Clegg, das mich allerdings an die Grenze meiner englischen Sprachkenntnisse bringt. Aber ich mag Herausforderungen.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Ein Zitat von Terry Pratchett, weil er immer recht hat, aber hiermit ganz besonders:
„Wenn Leute, die schreiben und lesen können, für andere Leute kämpfen, denen diese Kenntnisse fehlen, ist das Ergebnis nur eine neue Art von Dummheit. Wenn ihr etwas für sie tun wollt, baut irgendwo eine Bibliothek und lasst die Tür offen.“

Autorin und Künstlerin
Vielen Dank für das Interview, liebe Hanna-Linn, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literatur-, Kunstprojekte und persönlich alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen: Hanna-Linn Hava, Autorin und Künstlerin
Zur Person: Hanna-Linn Hava
Biographie:
1978, 15.September: geboren in der Filderklinik in Filderstadt, Lkr. Stuttgart
2000-2002: Mitinhaberin des Bioladen-Frauenkollektivs „Rote Rübe“ in Tübingen
2002-2005: Studium der Freien Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe
2009, März: 2. Platz Würth-Literaturpreis für die Kurzgeschichte „Sein Name war Jonas“ Veröffentlichung Oktober 2009 im Swiridoff-Verlag
2009-heute: schriftstellerische und künstlerische Tätigkeiten
2011, März-Juni: Fortbildung an der Internationalen Schule für Schauspiel in München als Sprecherin
2018 – 2020: Vorleserin im Notariat Dr. Peter, Karlsruhe
Bibliographie:
2009 Kurzgeschichte „Sein Name war Jonas“, Anthologie, Swiridoff-Verlag (Würth-Literaturpreis)
2012 Lyrikband „Poesie aus Anderswann“, Selfpublishing
2014 Roman „Schneewittchens Geister, Periplaneta-Verlag
2020 Roman „Lilys Engelskostüm hat kaputte Flügel“, Selfpublishing
2024 Erzählband „Wild“, kul-ja! publishing
2024 Oktober, Roman „Das Blutige Kochbuch“, kul-ja! publishing
Website: www.hannalinnhava.de
Aktueller Erzählband:

Hanna-Linn Hava „Wild„
Betörende Poesie trifft auf prosaische Erotik.
In »Wild« passieren Dinge, die jedem passieren könnten. Jedenfalls dann, wenn man sich in einen wilden Wald verirrt und plötzlich die Grenze von der Menschenwelt zu woandershin überschreitet.
Und diese Grenze kann überall sein.
Wie ein roter Faden führt rotes Haar durch dieses Buch, verknüpft zart die einzelnen Geschichten miteinander und führt den Leser immer tiefer in die Dunkelheit der menschlichen Seele, aber auch dorthin, wo die Frauen noch ungezähmt und sich ihrer Kraft bewusst sind, dorthin, wo die Magie wie Unkraut in jedem Hinterhof plötzlich aufblühen kann und die Sinnlichkeit keine verblümten Worte braucht.
Wer sich auf das Abenteuer einlässt, findet sich in Märchen wieder, die mit lyrischer Sprache so scharf unsere sozialen Skripte sezieren, dass es manchmal nicht leicht ist, zu entscheiden, ob man lieber verstört oder verzaubert sein möchte. Am Ende ist man beides.
»Kein Wunder, dass es sich Kurt Cobain, himself, als Penner getarnt, zwischen den Zeilen dieser Erzählungen auf einer Parkbank bequem gemacht hat, wie in einem geflüsterten Remake aus altem und neuem Blut, gemixt mit etwas erotisierender Gewitterbowle, natürlich tanzbar.« – Julia Kulewatz
- Erotisch-phantastische Kurzprosa
- Hardcover (Fadenheftung), mit 22 farbigen Illustrationen der Autorin und Künstlerin Hanna-Linn Hava
- 188 Seiten — 12 x 19 cm
- ISBN: 978-3-949260-23-0
- Preis: 25,00 Euro
https://www.kul-ja.com/onlineshop/wild/
Fotos_privat.
Walter Pobaschnig _ 21.8.2024