„Geschichten haben mein Herz geweitet, mir Angst genommen, Mut gemacht“ Anni Rennt, Schriftstellerin _ Bad Homburg/D 26.7.2024

Liebe Anni Rennt, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ich fahre jeden Morgen mit der Tram Richtung Durchschnittswelt, abends spuckt mich die Tram wieder aus. An diesen Orten, es waren viele dieser Art in den letzten 20 Jahren, wird mir klar, warum die Welt ist, wie sie ist, ein kalter, roher Ort.

An den Abenden, den Wochenenden, an jedem freien Tag, gehört mir die Anderswelt, oder vielmehr, ich gehöre ihr. Ohne diese Fluchten wäre es mir unmöglich. Ganz sicher. Unmöglich.

Anni Rennt, Schriftstellerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Fühlen. Ich bin eine Beobachterin, ich sehe und fühle in den einfachen Leben eine enorme Kälte, sie war immer da. In der Bahn, an der Kasse im Supermarkt, auf den Autobahnen, der eigenen Familie, im Netz sowieso. Es ist, als hätte jemand die Liebe ausgestellt und ein Großteil der Seelen ist lange schon tot. Erzählen wir Geschichten von Liebenden, von Sehenden, von Mutigen.  

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Wenn Geschichten noch aggressiver, noch brutaler, noch roher werden, wie die Welt schon ist, sehe ich da keinen Ausweg für uns. Als Kind wollte ich verzaubert werden, weggetragen aus der Brutalität der Kleinwelt. Geschichten haben mein Herz geweitet, mir Angst genommen, Mut gemacht, mich überhaupt erst liebesfähig werden lassen, mich niemals manipuliert und hintergangen. Neben politischer Aufklärung, die auf Logik beruht, wünsche ich uns Geschichten, die unser Herz berühren. Das sind Aufgaben von Wissenschaft und Kunst.


Was liest Du derzeit?

Da ich aktuell selbst ein größeres literarisches Thema bearbeite und ein älteres, lange liegengebliebenes zum zweiten Mal aufklopfe, fällt es mir schwer, nebenher einen Roman zu lesen. Vieles ist Recherchematerial, Fachbücher zu Farben, Bäumen, Psychologie. Doch, in diesen Räumen zwischen dem Alltag und meinen Texten, die ich teilweise ins Netz streue, ist Lyrik meine Geliebte. Neben meinem Bett: Phillis Wheatley, Friederike Mayröcker, Jay M. Walther.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Der wahre Sinn der Kunst liegt nicht darin, schöne Objekte zu schaffen. Es ist vielmehr eine Methode, um zu verstehen. Ein Weg, die Welt zu durchdringen und den eigenen Platz zu finden. (Paul Auster, 3. Februar 1947, † 30. April 2024)

Genießen Sie den Horizont und lernen Sie unterscheiden zwischen wahrem und scheinbarem Wind. Jay. M. Walther

Es ist nicht wichtig, wie sie heißt. Es ist nicht wichtig, wer sie war. Wichtig ist, wer ist sie jetzt? Danach.

Anni Rennt

Anni Rennt, Schriftstellerin

Vielen Dank für das Interview, liebe Anni, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich alles Gute! 

Danke, Walter!

5 Fragen an Künstler*innen: Anni Rennt, Schriftstellerin

Zur Person: Anni Rennt (Anni Boehk) wurde 1977 in Berlin-Mitte geboren, sie wuchs in einer DDR Arbeiterfamilie auf. Nach dem vorzeitigen Abbruch des Studiums (Germanistik, Kunstgeschichte) jobbte sie u.a. als Regieassistentin, Obst- und Frittenverkäuferin, Buchhalterin sowie als Marketingassistentin für mehrere Unternehmen in Deutschland. 2010 absolvierte sie ein Abendstudium an der Akademie für Marketingkommunikation in Frankfurt, wo sie seit 2008 lebt. Sie ist Texterin, Projektmanagerin für Unternehmenskommunikation und Online-Marketing. Schreiben ist für der Ort, der die Risse offenlegt, sie manchmal vernäht und sie vor der Rohheit des Alltags abschirmt. Sie schreibt Kurzgeschichten und Gedichte, die sie im Netz verstreut. Die Arbeit an einem Roman geht voran, ein Ende ist absehbar. Eine geeignete Literaturagentur zu finden, ist das nächste Ziel.

Bad Homburg, 25.07.2024

Fotos_privat.

Walter Pobaschnig _ 25.7.2024

https://literaturoutdoors.com

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