„Ich träume davon, dass mithilfe der Kunst tragfähige Utopien entwickelt werden“ Stephanie Mehnert, Schriftstellerin _ Nürnberg 15.7.2024

Liebe Stephanie Mehnert, wie sieht jetzt dein Tagesablauf aus?

Ich beginne den Tag gern mit einem guten Frühstück. Da ich Mutter eines Schulkindes bin, ist das wochentags zwar früher als mir lieb ist, aber ich genieße es, mich mit meinen Liebsten in Ruhe einzuschwingen. Danach gehe ich für einige Stunden meiner psychotherapeutischen Arbeit nach, die gleichzeitig auch meine größte Inspirationsquelle ist. Meine Praxis ist für mich ein beinahe magischer Ort, der nur mir gehört, der quasi meinen eigenen Gesetzen folgt, in dem ich Gedanken und Texte ordne, forme oder verwerfe. Wenn ich kann, lasse ich mich durch die Nachmittagsstunden treiben, wandere durch die Flussauen oder sitze in Cafés herum, wo ich mir Dialogfetzen von Fremden einflüstern lasse. Und ich liebe das Freibad am Ende unserer Straße! Der größte Teil meiner Texte entsteht in den Abendstunden, wenn ich ganz bei mir bin und versuche, aus all dem Erlebten etwas Gutes zu extrahieren.

Stephanie Mehnert, Schriftstellerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

In den letzten Tagen denke ich viel über Hartmut Rosa und seine Resonanztheorie nach. Solange wir zwischen dem Bedürfnis nach Kontrolle und dem Gefühl von Ohnmacht hin und her kippen, verpassen wir letztlich den Raum dazwischen. Einen Zustand, den Salomo Friedländer als „schöpferische Indifferenz“ bezeichnet hat, aber man könnte ihn auch einfach Gelassenheit nennen. Nach Friedländer handelt es sich dabei um eine interessierte, abwartende und offene Haltung, die infolge einer Resonanzerfahrung in eine Handlung übergeht. Oder einfacher gesagt: Wenn wir lernen, einander aufmerksam und achtsam zu begegnen, dient das dem aufrichtigen Dialog und letztlich einem friedlicheren Miteinander.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst zu?

Das wunderbare an der Kunst, an der Literatur, ist für mich, dass sie niemals auf eine Rolle oder Funktion herunterzubrechen ist. Und wenn es doch einmal einen derartigen Versuch gibt, sind hier und da schon längst wieder viele aus dem Kanon, dem Zeitgeist, ausgebrochen und machen alles ganz anders. Bei Timothy Morton habe ich mal gelesen, man könne Ästhetik auch als Anästhetikum verwenden. Seither versuche ich, ebendas zu vermeiden, und mich selbst und die Lesenden nicht mit Schönheit einzulullen, zu verkleben, wenn ich zum Beispiel Naturbeschreibungen als Tor zu möglichen Resonanzräumen in Texten verwende. Ich liebe das fruchtbare Chaos, das entsteht, wenn interdisziplinär gearbeitet wird. Kunst im öffentlichen Raum, öffentliche Räume, die weniger künstlich werden, weil man sie bespielt. Von der Architektur bis zum Gartenbau könnte alles noch wesentlich künstlerischer, organischer und lebensfreundlicher gedacht werden. Wir alle sind aufgefordert, eine unnachgiebige Haltung gegenüber jenen einzunehmen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, unsere Gesellschaften zu spalten und zu zerstören. Ich träume davon, dass mithilfe der Kunst neue Narrative entstehen und jene tragfähigen Utopien entwickelt werden, nach denen es so viele Menschen gerade dürstet.

Was liest du derzeit?

»Hasenprosa« von Maren Kames und »Die Selbstorganisation des Universums« von Erich Jantsch

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest du uns mitgeben?

»Ich wusste, jetzt würde es fürchterlich kompliziert, aber ich konnte nichts dafür, erst recht nichts dagegen, höchstens ein klein wenig hinzutun, wenn ich mich mühte.«

(Maren Kames / Hasenprosa / Suhrkamp 2024)

Vielen Dank für das Interview, liebe Stephanie, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen: Stephanie Mehnert, Schriftstellerin

Zur Person: Stephanie Mehnert wurde 1979 in Hamburg geboren. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Nürnberg, wo sie als Gestalttherapeutin niedergelassen ist. Ihre Texte erschienen u.a. in Literaturzeitschriften, in Anthologien und auf verschiedenen Literaturportalen.

»Das Flimmern kleiner Lichter« ist ihr Romandebüt.

Mehnert ist Mitglied im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller und Mitbegründerin der unabhängigen Lesereihe »Übermut & Zärtlichkeit«.

In ihren Texten erforscht sie die Lebensrealitäten randständiger Figuren, und die Natur als mögliche Ressource, in der Hoffnung, damit einen Beitrag für mehr Mitgefühl und Toleranz leisten zu können.

www.stephaniemehnert.de

Kommender Debütroman von Stephanie Mehnert:

»Das Flimmern kleiner Lichter« Stephanie
Mehnert (ET: 26.08.24)

„Feinfühliger Debütroman über »die kleinen Lichter« St. Paulis »Es leben Menschen im Viertel. Und sie leben miteinander und nebeneinanderher, verwoben, wie Pilzmycel.«
Ronja arbeitet als Pflegehilfskraft im Hamburger Stadtteil St. Pauli und wohnt nach ihrem WG-Auszug in einer Datsche am Elbstrand. Ihre Eltern taten ihr zu deren Lebzeiten mehr weh als gut – der Vater geriet im Suff in Rage –, weshalb Ronja sich bindenden Beziehungen lieber entzieht. Niemandem berichtet sie von dem sexuellen Übergriff ihres Chefs, sie will bloß irgendwie weitermachen. Als sie sich dazu überreden lässt, ihre zwangseingewiesene Lieblingspatientin aus der Klinik zu entführen, um deren Suizid zu
verhindern, gerät Ronjas Leben vollends aus den Fugen. Mit dem Aufdecken einer Lüge bricht der Horror vergangener Tage aus ihr heraus. Doch Ronja kann sich auf den Rückhalt und die Liebe einer Familie verlassen, von deren Existenz sie bisher nichts geahnt
hatte. Denn zwischen den kleinen Lichtern um sie herum entwickelt sich ein starkes Netz tragfähiger Verbindungen.“
https://www.ulrike-helmer-verlag.de/buchbeschreibungen/stephanie-mehnert-das-flimmern-kleiner-lichter/

Hardcover | 144 Seiten | 20,00 € (D)
ISBN 978-3-89741-492-1
Auch als E-Book erhältlich

Foto Portrait_Maria Bayer

Walter Pobaschnig _ 8.7.2024

https://literaturoutdoors.com

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