Liebe Eva Surma, wie sieht jetzt dein Tagesablauf aus?
Nachdem ich mit 58 zum allerersten Mal in meinem Leben alleine lebe, ist für mich alles neu. Als hätte ich immer noch Kinder, die den Schulbus erreichen müssen, bin ich besonders morgens zwanghaft.
Im freien Spiel der Mächte bin ich eine Frühaufsteherin und eigentlich auch eine Früh-Einschläferin. Ich bemerke jetzt an mir Ähnlichkeiten mit meiner Mutter, die 20 Jahre allein gelebt hat. Es hat sich schon in der ersten Woche des Alleinlebens nicht das Syndrom des leeren Nests eingestellt, sondern eine unbändige Freude darüber, frei und selbstbestimmt meine Zeit zu strukturieren. Ich hab jetzt sehr viel Ruhe und Ideen zum Schreiben, Zeit zum Lesen, zum Laufen, Zeit um ans Meer zu fahren oder Ausstellungen zu besuchen. Der Broterwerb als Beraterin in der Leibnitzer Frauenberatungsstelle, die ich selbst mit einer Kollegin vor 20 Jahren gegründet habe, ist eine zentrale und nicht wegzudenkende Beschäftigung.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Selbstfürsorge und Besonnenheit. Wer nicht gut auf sich selbst schaut, verliert den Anschluss an die Gesellschaft. Ruhiges Nachdenken kann da hilfreich sein. Wer für sich selbst interessant ist, weiß auch worauf bei den Mitmenschen zu achten ist. Dadurch entsteht Beziehung, Bindung, Nähe und dafür ist der Mensch gemacht. In der heutigen Gesellschaft müssen wir uns nicht dadurch verleugnen, dass wir uns alles leisten (können). Gemeinsames Schwingen ist etwas Unbezahlbares. Das erlebe ich gerade in der Gleisdorfer Konvergenzzone des Martin Krusche, im Lyrik.Treff.Punkt der Karin Klug und in der IGfem, bei den feministischen Autorinnen, um Gerlinde Hacker und Doro Pointner. Wer mit sich selbst anständig umgeht, kommt auch mit neuen und vielen und sehr unterschiedlichen Menschen gut aus. Und es braucht eine Bezugsperson, der wir uns anvertrauen können, Liebe spüren. Für mich ist das meine Tochter, der ich nicht immer so nahe war.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn, also in unserer jetzigen Situation: Welche Rolle kommt dabei der Kunst, der Literatur zu?
Tatsächlich stehen wir an jedem neuen Tag vor einem Neubeginn, der uns nicht auf Ewigkeiten gewährt ist. In der Kunst teilen wir uns mit. Wir bringen unser Innerstes zum Ausdruck. Das macht uns für die Außenwelt interpretierbar, aber auch wir selbst lernen dadurch immer wieder neue Seiten an uns kennen. Die Kunst besteht nicht darin, sich möglichst clever zu verkaufen. Die Kunst liegt in der Freude am Perspektivenwechsel, liegt in der Wertschätzung der Arbeiten, die bei persönlichen Auseinandersetzungen mit mir und der Welt entstehen und dem ständigen Austausch darüber mit den mir Nahestehenden. Wer sich für meine Gedichte nicht interessiert, hat an einem wesentlichen Bestandteil von mir kein Interesse. Das habe ich viel zu spät verstanden und daher mein Schreiben immer hintangestellt. Den Menschen, die mir etwas bedeuten bringe ich Interesse entgegen. Ich hebe ihre Talente und lasse sie glänzen. Alles andere, was nur mir zum Nutzen ist, was Kohle bringt, was mir Bequemlichkeit beschert, ist kapitalistische Ausbeuterei. Das macht den Gendergap so richtig weit auf. Auch wir Feministinnen sind Teil des Patriarchats. Jammern bringt nix. Wir leben die Sisterhood. Und glaub mir: Das ist eine Kunst!

Was liest du derzeit?
Dunkelgrün fast schwarz, von Mareike Fallwickl, nachdem mir Die Wut, die bleibt so gut gefallen hat.
Immer wieder: Die Liebe ruht von Drago Jancar.
Lieblingsbücher habe ich viele. Allen voran Brigitte Schwaiger: Wie kommt das Salz ins Meer. Atwoods Report der Magd. Das Fünfte Kind von Doris Lessing, Stay away from Gretchen von Susanne Abel. Die Gedichte der Kaschnitz. Mascha Kaleko.
Die Postkarte von Anne Berest hat mich auch sehr beeindruckt.
Und ich liebe die Filme von Doris Dörrie. Und Undine vom Petzold. Auch In den Gängen ist ein steiler Film.
Welches Zitat möchtest du hier teilen?
Simone de Beauvoir: Das Private ist politisch und das Politische ist Privat.
Das spricht für sich selbst, finde ich. Und erklärt, warum Feminismus für alle da ist. Augen auf!
Vielen Dank für das Interview, liebe Eva, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Eva Surma, Schriftstellerin
Zur Person_ Eva Surma, gebürtige Grazerin. Lebt und schreibt in Leibnitz, in der Südsteiermark, aber auch sehr gern am Meer. Sie hat Deutsch als Fremdsprache in Graz, Judenburg und Modena im MA-Studium abgeschlossen und darf sich, nach einem Studium an der Donau Universität Krems, Akademische Expertin der Migrationswissenschaften nennen. Feminismus ist ihr Beruf und ihre Berufung. 2005 gründet sie gemeinsam mit der Geschlechterforscherin Sandra Jakomini den verein-freiraum, der fortan die Frauenberatungsstelle Leibnitz trägt. 2021 gründet sie mit Mark Klenk den Verein Worte und Taten, der aktuell in der Ukrainehilfe sehr aktiv ist. Seit 2022 ist Eva Surma Mitglied der IGfem und gründet in selben Jahr zusammen mit der IGfem-Präsidentin Gerlinde Hacker und der Wordrapperin Anna Cech die IGfem Bezirk Leibnitz Schwesternvereinigung. Eva Surma ist seit vielen Jahren leidenschaftliches Mitglied der internationalen Plattform literatur*grenzenlos und seit 2023 PEN Mitglied.
Als dem Chaos verbundene Grenzgängerin ist sie immer auf der Suche nach Altem und nach Neuem. Seit 15 Jahren ist Eva Surma Mitglied des Lebringer Literaturkreises. Jüngster Poetik-Preis: 2022 Un Monte di Poesia, Florenz, „Premio Oltre Confine“. Am 26. Mai 2023 reklamiert sie ihre Meerschutzgedicht „Mare, il grande fratello blu“ auf der Piazza Unitá in Triest auf Italienisch und Deutsch, im Rahmen der Veranstaltung von Mare Nordest gemeinsam mit ihrer feministischen Künstlerkollegin Qing Yue.
Fotos_privat
Walter Pobaschnig _ 10.6.2024