„In der Literatur erkennen wir uns selbst“ Nassir Djafari, Schriftsteller _ Wehrheim/D 29.4.2024

Lieber Nassir Djafari, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ich liebe den Morgen, das ist meine kreativste Zeit des Tages. Nach einem kurzen Frühstück, schneller Blick in die Zeitung, laufe ich etwa eine Stunde über die Felder und durch den Wald. Wenige Schritte aus dem Haus genügen, und ich bin schon im Grünen. Danach setzte ich mich an den Schreibtisch und arbeite an meinem aktuellen Roman und allem, was damit zusammenhängt. Dazu ist als Treibstoff guter Tee unverzichtbar, ohne den geht gar nichts. Und dann koche ich.

Am frühen Nachmittag essen meine Frau und ich zu Mittag, wir erzählen, lachen, diskutieren. Wenn ich gerade im Fluss bin, schreibe ich anschließend weiter, wenn nicht versinke ich im Lesesessel und tauche ein in Bücher, die andere geschrieben haben.

Am Abend: Gespräche, Freunde, Politik-  und Kulturveranstaltungen oder einfach Nichtstun.

Nassir Djafari, Schriftsteller

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

In einer Zeit, in der Meinungen zur Weltlage unversöhnlich aufeinanderprallen, in der Minenfelder im Diskurs besser gemieden werden, um sich nicht zu zerstreiten, in einer Zeit, in der selbst im Freundeskreis plötzlich nichts mehr geht, wenn die Sprache auf Corona, Migration, Ukrainekrieg, Palästina / Israel und viele andere, immer weiter zunehmende kontroverse Themen kommt, in einer Zeit, in der im öffentlichen Diskurs eine Meinung, kaum ausgesprochen, niedergeschrien wird, in dieser Zeit dürfen wir das Gemeinsame, das, was uns verbindet, nicht vergessen und uns zugleich von niemandem den Mund verbieten lassen. Diesen Spagat hinzubekommen, ist jetzt für uns alle besonders wichtig.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Die Literatur bietet uns die Chance, für eine kurze Weile in die Haut eines anderen zu schlüpfen, mit ihm mitzufühlen, mit seinen Augen zu sehen und so in einen anderen Mikrokosmos einzutauchen. Und nicht selten stellen wir zu unserer Überraschung fest, dass wir in dem anderen uns selbst erkennen.

Was liest Du derzeit?

„Frankie“ von Michael Köhlmeier

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Ich nahm den Brief in die Hand. Das Kuvert war aus dünnem Papier, hellblau mit rot-blau gestricheltem Rand, drei Briefmarken mit dem Konterfei Khomeinis, handschriftlich an mich adressiert. Drinnen befand sich ein dicht beschriebenes Blatt, auf dem sich die vertrauten persischen Schriftzeichen mit ihren vielen Punkten über und unter den Buchstaben aneinanderreihten. Ich verstand nichts.“

Aus meinem neuen Roman „Der Großcousin“, erschienen im Sujet Verlag, Bremen

Vielen Dank für das Interview, lieber Nassir, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Nassir Djafari, Schriftsteller

Zur Person_ Nassir Djafari ist Schriftsteller. 1952 im Iran geboren, lebt er seit seinem fünften Lebensjahr in Deutschland.

Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre war er in verschiedenen Funktionen für die deutsche und internationale Entwicklungszusammenarbeit tätig, davon auch mehrere Jahre als volkswirtschaftlicher Berater in Peru und Polen.

Nassir Djafari hat zahlreiche Artikel und Buchbeiträge über die politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Länder des globalen Südens veröffentlicht und sich zu integrationspolitischen Themen geäußert.

Im Jahre 2020 erschien sein Debütroman „Eine Woche, ein Leben“, 2022 sein zweiter Roman „Mahtab“. Im Mai 2024 erschien sein dritter Roman „Der Großcousin“.

Nassir Djafari spürt in seinen Romanen den Fragen der Identität und der Zugehörigkeit nach. Seine Figuren leben in zwei Welten. Sie sind von ihrer Herkunftskultur geprägt, ebenso wie von der Kultur des Landes, in dem sie leben.

Kommende Romanneuerscheinung von Nassir Djafari: „Der Großcousin“ , Sujet Verlag

„Abbe, 62 Jahre alt, erfolgreicher Frankfurter Geschäftsmann und Kosmopolit, empfindet sich selbst als Deutscher. Seine iranischen Wurzeln sind verschüttet. Als ihn eines Tages ein entfernter Verwandter, soeben aus dem Iran eingetroffen, aufsucht, gerät sein Leben durcheinander. Der Besucher ist undurchschaubar, verwickelt sich in Widersprüche und stolpert von einer Notlage zur nächsten. Bald kreist Abbes Leben nur noch um die Probleme des Verwandten. Erst nach und nach erschließt sich ihm die wahre Geschichte des jungen Mannes, und er beginnt ihn und sich selbst mit anderen Augen zu sehen.“

Nassir Djafari „Der Großcousin“
Sujet Verlag Bremen
Erscheinungstermin: 2. Mai 2024
Softcover mit Klappen
255 Seiten, 19,80 €
ISBN 978-3-96202-136-8

https://sujetverlag.de/

Foto: R. Pigagaite

Walter Pobaschnig _ 22.4.2024

https://literaturoutdoors.com

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