Lieber Bülent Kacan, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Nach dem Frühstück – ein, zwei Tassen Kaffee gehören zum morgendlichen Erweckungsritual – setze ich mich an den Schreibtisch. An einen Text anzuknüpfen setzt eine Teppichwebermentalität voraus. Vielleicht haben die Webkunst und die Schrift einen gemeinsamen Ursprung. Womöglich wärmen literarische Texte in ähnlicher Form wie Teppiche es tun und wenn sie formal gut gelungen sind, finden wir sie auch schön. Der Spaziergang am Nachmittag bildet einen Gegenpol zum Sitzen und Schreiben.
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Verständnis für andere, mitunter konträre Positionen aufbringen, solange sich diese mit dem gesunden Menschenverstand vereinbaren lassen. Der menschliche Verstand kann in Kriegs- und Krisenzeiten ziemlich flexibel reagieren, nicht selten nimmt er hier Verhältnisse, Entwicklungen und Ereignisse hin, die er in Friedenszeiten nicht akzeptieren würde. Der gesunde Menschenverstand ist, relativ gesehen, auch von äußeren Kontexten abhängig. Er selbst kann in einen Ausnahmezustand geraten, was anschließend gesund ist und was nicht, dies können dann wohl nur, mit zeitlichem Abstand, die nachfolgenden Generationen bestimmen, die das Augenmaß wiedergefunden haben. Im gegenseitigen Austausch, der ein gegenseitiges Interesse voraussetzt, ist es möglich, zu verstehen, wieso mein Gegenüber anders denkt, spricht, handelt – ein Gegenüber muss nicht notwendigerweise in einer Gegnerschaft enden. Die Konfrontation mit konträren Standpunkten kann allerdings auch Irritationen hervorrufen, eine Unsicherheit, ein Unbehagen. Doch nur wo wir uns dem Anderen gegenüber öffnen, dort ist auch ein persönlicher Wandel, eine Ver-Wandlung möglich. Die Metamorphosen der Natur sind unübertroffen.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Aufbruch und Neubeginn sind pathetische Begriffe. In der Regel finden fließende Übergänge statt. Der Klimawandel erfordert allerdings ein rasches, radikales Eingreifen auf globaler Ebene – radikal hieße hier, das Wirtschaftssystem, mit dem wir einen Raubbau an Mensch und Natur betreiben, grundsätzlich neu zu überdenken. Das Klima macht vor Staatsgrenzen keinen Halt, es gibt den Takt vor, an dem sich die politischen Akteure, letztlich wir alle orientieren sollten. Wir befinden uns in einem globalen Lernprozess – bestenfalls. Wir Menschen greifen in die Natur ein, in einem umfassenden Sinn aber zwingt uns diese auf kurz oder lang ihre eigenen Gesetze auf. Einem Zeitalter des Übermuts und Überflusses folgt bestenfalls ein Zeitalter der Demut und der Dankbarkeit.
Kunst, solange sie im Menschen etwas bewirkt, ist lebendig, sie kann zu einer neuen Perspektive auf das Leben führen, gar neue Seiten in den Betrachtern öffnen, sie empfindlicher, emphatischer in einer Zeit machen, in der viele Lebensverhältnisse – man kann auch sagen Lebensprozesse – automatisiert ablaufen. Kunst darf sicher auch gefallen und unterhalten, sie darf sehr vieles, sie darf sogar vor den Kopf stoßen, was sie nicht darf, das kann man in autoritär regierten Staaten erfahren: Kritik an den herrschenden Verhältnissen üben. Die Literatur gibt es im Übrigen ebenso wenig, wie es die Kunst gibt. Wenn mir ein Satz aus einem Roman in Erinnerung bleibt, hat die Literatur schon viel gewonnen – sie hat mich berührt, was immerhin einem magischen Akt gleichkommt, wenn man bedenkt, dass es sich um eine Schrift handelt, um eine Aneinanderreihung von Zeichen, denen ein ungeheures Potential innewohnt.
Was liest Du derzeit?
Ich lese gerade den Essay Der Dichter von Ralph Waldo Emerson.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Bis vor einiger Zeit besaß ich ein kleines schwarzes Heft, in dem ich Zitate festgehalten habe. Ich habe es verlegt oder verloren und kann jetzt nichts mehr zitieren. Wenn man nicht mehr zitieren kann, ist man aufgeschmissen, man ist gewissermaßen am Ende. Vielleicht sollte man in den gegenwärtigen Zeiten weniger zitieren und öfters das eigene Wort ergreifen.
Vielen Dank für das Interview, lieber Bülent, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Bülent Kacan, Schriftsteller
Zur Person_ Bülent Kacan, Schriftsteller, wurde am 18. Juli 1975 geboren. Er lebt und arbeitet in Minden, Westfalen.
Bülent Kacan wurde 2023 mit dem Hohenemser Literaturpreis für deutschsprachige Autor:innen nichtdeutscher Erstsprache ausgezeichnet.
Foto_ privat
Walter Pobaschnig _ 24.4.2024