Lieber Moritz Franz Beichl, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Früh aufstehen, Kaffee trinken, »Büro Moritz« spielen und schnellstmöglich die wichtigsten Aufgaben erledigen. Dann: Schreiben. Das geht meist nur in der Früh oder vormittags. Derzeit habe ich mein Handy mehr als die Hälfte des Tages im Flugmodus.
Im Laufe des Nachmittags wird mein Tagesablauf unstrukturierter, ich nenne das seit meiner Jahre in Hamburg liebevoll »produktives daddeln« (norddeutsch für das österreichische »Bummeln«, wenn man eine Sache sehr langsam oder nicht effizient genug macht). Ich gehe viel spazieren, höre Podcasts, lese, schaue Filme, denke mir Konzepte aus und treffe Freund:innen und Familie.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Erstens: Gemeinschaft. Eigentlich logisch und offensichtlich. Momentan führen wir viele der herrschenden Diskurse wir meines Erachtens falsch: zu absolut, zu emotional, unterkomplex. Außerdem steht für uns das individuelle Subjekt sehr stark im Mittelpunkt, das Netzwerk oder die Gruppe sind in den Hintergrund gerückt. Das macht uns egoistisch, teilweise sogar narzisstisch. In »Männer« (aktueller Roman, siehe unten, Anm.) schreibe ich an einer Stelle über Schwärme bei Fischen oder Vögeln. Das ist ein Bild, das mich seit einem Jahr durch den Alltag trägt. Wir sind zwar komplexere Wesen als diese Tiere, aber mich inspiriert bei ihnen diese Gruppendynamik, die durch und durch egalitär ist und gänzlich ohne Hierarchien oder Milieus funktioniert.
Zweitens: Aushalten, dass die Welt widersprüchlich ist. Wir lernen immer, wenn etwas schwarz ist, dass es dann nicht gleichzeitig weiß sein kann. Das stimmt aber gar nicht unbedingt. Viel Gewalt in unserer Welt entsteht durch hilflose Erklärungsversuche hochkomplexer Phänomene, die vermeintliche Einordnung ermöglichen sollen. Wir müssen unbedingt üben die Widersprüche in der Welt auszuhalten – sie vielleicht sogar als produktives Potential begreifen. Ich habe zum Beispiel vor Kurzem festgestellt, dass ich sowohl introvertiert als auch extrovertiert bin – diese scheinbar unbedeutende Erkenntnis hat mir sehr gut getan.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Früher oder später wird der Literatur jene Rolle zukommen, die nicht durch eine Wertschöpfung oder eine Funktion oder einen fiktiven, messbaren Wert zu definieren ist – selbst wenn jener Wert nur ein ideeller ist. Das gleiche gilt für alles andere und uns selbst auch.
Die subventionierten Stadt-, Staats- und Landestheater im deutschsprachigen Raum beispielsweise sind heutzutage bei ihren Entscheidungen sehr viel mehr als noch einige Jahre zuvor ebenso klassischen wirtschaftlichen Parametern unterworfen wie man sie in Betrieben am freien Markt findet. Ähnliches gilt auch für andere Kultureinrichtungen, Universitäten, Schulen oder sogar Krankenhäuser. Das kann über kurz oder lang nicht gut sein. Diese Bereiche können ihre Qualität nicht unter kapitalistischen Bedingungen am freien Markt gewährleisten – zumindest nicht für ein breites Volk.
Wichtig ist vor allem: die Zahlen. Welche Zahlen auch immer es sind. Hauptsache: Zahlen. Ich habe mal gehört: Wenn das Theater kaputtgespart wird, dann kommt irgendwann eine:r, stellt sich auf eine Bühne und das Theater wird wieder neu erfunden – und die Leute werden davon begeistert sein! Während Corona wurden Fragen nach »Systemrelevanz« und der unabdingbaren Notwendigkeit von Kultur diskutiert. Momentan denke ich: Kann Kultur überhaupt notwendig sein, wenn sie eine bestimmte »Notwendigkeit« zu erfüllen hat? Die stärkste Wirkung für eine Gesellschaft wird die Kultur dann erreichen, wenn sie auch »nutzlos« sein darf und keiner Funktion (wie Wertschöpfung oder Aufklärung oder Pädagogik oder Unterhaltung oder politischer Bildung oder anderes) dienen muss. Kultur muss manchmal auch sinnlos sein dürfen, damit sie Kultur ist.

Was liest Du derzeit?
Die Bedienungsanleitung meiner Kaffeemaschine, meinen Roman als Vorbereitung für die Lesungen und ein Buch über Trauma von Bessel van der Kolk.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Ich weiß jetzt endlich wo ich sein mag / Und das ist entweder zuhaus / Oder irgendwo anders / Zum Beispiel nicht zuhaus
Donnerwetterblitz, Endless Wellness

Vielen Dank für das Interview, lieber Moritz, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Theater-, Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Moritz Beichl, Regisseur, Schriftsteller

Zur Person _ MORITZ FRANZ BEICHL wurde 1992 in Wien geboren. Er beginnt mit 19 Jahren im Ensemble der JUNGEN BURG am Wiener Burgtheater. Im Anschluss studiert er Regie an der Theaterakademie Hamburg. Für seine Arbeiten kommt Beichl auf die Shortlist des KÖRBER STUDIO JUNGE REGIE, gewinnt den START OFF Wettbewerb, und wird zwei Mal Preisträger des HART AM WIND Festival. 2019 erhält er den NESTROY PREIS und 2023 den KULTURPREIS DES LANDES NIEDERÖSTERREICH.
2022 erscheint Beichls Debütroman »Die Abschaffung der Wochentage«. Im selben Jahr schreibt und veröffentlicht er im S. Fischer Verlag seine queer-feministische Komödienüberschreibung »Effi, Ach, Effi Briest«, die in Wien, Hamburg und Lübeck inszeniert wird. Für sein dramatisches Schreiben erhält er Stipendien des österreichischen Bundesministeriums und der Stadt Wien. Eben erschien »Männer«, Beichls zweiter Roman, im Residenz Verlag.
Beichl ist HAUSREGISSEUR am DT Göttingen und inszeniert an zahlreichen Theatern in Österreich und Deutschland – u. a. Schauspielhaus Hamburg, Staatstheater Braunschweig, Bronski & Grünberg, Stadttheater Klagenfurt, Tiroler Landestheater, Landestheater Niederösterreich und Salzkammergut Festwochen Gmunden. Neben Romanadaptionen, Uraufführungen und seiner eigenen Dramatik, widmet sich Beichl vor allem dem klassischen Kanon und versucht mit Stücken von u. a. Shakespeare, Büchner, Schiller, Nestroy, Horváth oder Molière, einen Abgleich zu unseren gegenwärtigen Lebensrealitäten vorzunehmen.
Moritz Franz Beichl lebt in Wien.
Aktuelle Buchveröffentlichung: „Männer“ Moritz Franz Beichl. Residenz Verlag

Mit schmerzhafter Offenheit, Witz und Zärtlichkeit erzählt Moritz Franz Beichl von zwei ungleichen Brüdern und von seiner Suche nach alternativen Bildern von Männlichkeit.
In Moritz Franz Beichls Roman begegnen sich zwei Männer, die nichts gemeinsam haben – außer etwas Wesentliches: den Vater. Denn alles unterscheidet den Erzähler von seinem Bruder Konrad, dem Juristen und Familienvater, der in einem schönen Haus wohnt – und ein konventionelles Männerbild fortschreibt. Attraktiver, moderner, aber mit all der normativen Gewalt, die da immer schon war. Doch jetzt ist der Vater gestorben, die beiden Brüder müssen gemeinsam das Begräbnis organisieren – und erstmals hat der Erzähler seinem großen Bruder etwas entgegenzuhalten: ein selbstbestimmtes Leben als Balletttänzer, als schwuler Mann, als eigensinniger Single. Die alten Konflikte brechen auf, aber Versöhnung kann es vielleicht auch geben, ohne das Leben des anderen ganz zu verstehen.
https://www.residenzverlag.com/buch/manner?_translation=de
Buchpräsentation/Lesungstermine:
18. April – Buchpräsentation im Café Roza (1070, Wien)
17. Mai – Lesung mit Musik im Bronski & Grünberg (1090, Wien)

Fotos_ Selina Schobel
Walter Pobaschnig _ 31.3.2024