„Ich schaue bewusst in den Abgrund, an dem wir stehen“ Katrin Frauchiger, Sängerin, Komponistin _ Bern 18.2.2024

Liebe Katrin Frauchiger, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Zur Zeit habe ich als Dozentin an der Hochschule für Musik Luzern Semesterpause und kann kreativ aus dem Vollen schöpfen. Diese scheinbare Pause ist meist eine besonders aktive Zeit, wo ich an Kompositionsaufträgen arbeite, Konzerte gebe, oder Studioaufnahmen mache. Gerade ist unser neues Album „A Voyage in Sound“ bei Unit Records erschienen und ich bin ganz mit der Vorbereitung des Release-Konzerts beschäftigt. Ähnlich wie bei einer Sportlerin vor einem Wettkampf ist es für mich als Sängerin jetzt wichtig, in meinem Tagesablauf das richtige Gleichgewicht zu finden zwischen konzentriertem Üben und Proben, Administrativem zur Promotion des Albums und im Zusammenhang mit kommenden Projekten, aber auch auf meine Fitness zu achten, für Entspannung und genügend Schlaf zu sorgen. Der Musikerberuf besteht aus unheimlich vielen Teilbereichen, die gleichzeitig zu managen sind – neben der Familie – und so geniesse ich gerade das seltene Privileg, mich zurückziehen und ganz auf mein aktuelles Projekt einlassen zu können.

Katrin Frauchiger, Sängerin, Komponistin, Dozentin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Ich persönlich versuche die Gratwanderung zwischen konzentriertem Eintauchen in meine Arbeit und bewusstem Offenbleiben für die Veränderungen in unserer Welt, die immer schneller und extremer vor sich gehen. Ich schaue bewusst in den Abgrund, an dem wir stehen. Ich versuche zu verstehen, mich aus verschiedenen Perspektiven zu informieren, nicht wegzuschauen, aber mich auch nicht überwältigen und entmutigen zu lassen, angesichts des Ausmasses an Krisen, die die Menschheit zu bewältigen hat.
Dies erscheint mir besonders wichtig: uns selbst und dem, was uns zuinnerst bewegt und antreibt, treu zu bleiben. Nicht zu erstarren in unseren Vorurteilen und Ängsten, sondern genau hinzuhören, wahrzunehmen, unsere eigenen Denkmuster zu hinterfragen – Fähigkeiten, die Künstler ein Leben lang ausbilden…

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Musik, der Kunst an sich zu?

Als wichtiger Gegenentwurf zur aktuellen Welt, welche von der oberflächlichen und schnelllebigen Profilierungskultur und Digitalisierung geprägt ist, ermöglicht uns die Kunst das Eintauchen ins Wesentliche, das Erleben von Präsenz und Authentizität. Ich glaube daran, dass die emotionale Kraft, welche Musik universell verständlich macht, aus der Zeit losgelöst wie eine Unterströmung wirkt und menschliche Verbundenheit schafft.

Was liest Du derzeit?

Nach Virginia Woolfs „To the lighthouse” und Clarice Lispectors “Der grosse Augenblick”, habe ich in einem Zug ein weiteres wunderbar stilles und sonderbares Buch gelesen, den Roman „Morgen und Abend“ von Jon Fosse. Auch lese ich erneut „Damals ganz zuerst am Anfang“, mein persönliches Lieblingsbuch meines kürzlich verstorbenen Vaters, des Musikers und Schriftstellers Urs Frauchiger, in welchem er von seiner Kindheit erzählt: „Ich möchte noch einmal spüren, wie das war: Kind sein, noch nicht erwachsen gewesen sein.“

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen, denn alles fließt und nichts bleibt.“

Heraklit

„Die Kunst fliegt um die Wahrheit, aber mit der entschiedenen Absicht, sich nicht zu verbrennen. Ihre Fähigkeit besteht darin, in der dunklen Leere einen Ort zu finden, wo der Strahl des Lichts, ohne dass dies vorher zu erkennen gewesen wäre, kräftig aufgefangen werden kann.“

Franz Kafka

“Not everything’s significance is obvious within a second or even within a year: such are feelings, forests, and music.“

Kaija Saariaho

Vielen Dank für das Interview, liebe Katrin, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Musik-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Katrin Frauchiger, Sängerin, Komponistin, Dozentin

Zur Person  Katrin Frauchiger, Schweizer Sängerin und Komponistin, Dozentin für Gesang an der Musikhochschule Luzern, studierte klassischen Gesang bei Jakob Stämpfli an der HMT Bern, bei Dorothea Brinkmann in Cambridge USA (Solistendiplom mit Auszeichnung) sowie Komposition bei Michael Jarrell an der Musikhochschule Zürich. Mit einem breitgefächerten klassischen Konzertrepertoire von Barock bis zur Neuen Musik, sowie im Jazz und in spartenübergreifenden Projekten tritt Katrin Frauchiger in Europa und den USA auf; sie hat zahlreiche neue Werke uraufgeführt, u.a. von Frangis Ali-Sade, Matthias Pintscher, Jürg Wyttenbach, Hans Wüthrich.

Ihre Kompositionen kommen in Europa, USA, Argentinien und China zur Aufführung.

Katrin Frauchiger engagiert sich auch kulturpolitisch, aktuell im Vorstand von Sonart, und in der Kunstvermittlung, 2023 als Lesende von Vincent Carters «Bernbook».

Katrin Frauchiger und ihre Musik sind auf verschiedenen Alben zu hören, 2018 sorgte „Vom Sprengen des Gartens“ mit zeitgenössischem Lied für Aufmerksamkeit.

Gerade erschien ihr neues Album «A Voyage in Sound» im Duo mit dem Jazzpianisten Michael Beck: http://www.unitrecords.com/artists/duo-katrin-frauchiger–michael-beck/

Foto_Simon Opladen

Walter Pobaschnig _ 15.2.2024

https://literaturoutdoors.com

Hinterlasse einen Kommentar