Lieber Kersten Knipp, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Oh, denkbar unspektakulär. Morgens früh gehe ich zum Sport, auf das Laufband – übrigens einer meiner effizientesten Lektüre-Orte: Während der einen Stunde dort schaffe ich auf dem E-Reader eine ganze Mengen Seiten).
Danach arbeite ich in meinem Beruf als Journalist, am frühen Abend dann an den Büchern. Die Arbeit an ihnen läuft recht mechanisch: Jeden Tag mindestens eine Seite, das ist meine Minimalforderung an mich selbst. Gelegentlich werden es auch zwei oder drei, aber eine muss sein. Später am Abend lese ich wieder oder übe Gitarre – Akustikgitarre, meine alte Leidenschaft aus Teenie-Jahren, die ich jetzt wieder aufgegriffen habe.
Das ist es so ungefähr. In der Summe sind es recht stille Tage. Aber anders schaffe ich es nicht.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Die drängendsten Probleme stehen uns allen ja vor Augen: die Kriege in der Ukraine und in Nahost; Flucht und Migration; der Klimawandel; die Bildungsmisere, das Zerbröseln der politischen Mitte. Auf alles das, fürchte ich, habe ich nur wenig Einfluss. Wo ich vielleicht etwas tun kann, ist im Alltag. Denn der ändert sich ja auch, so nehme ich es zumindest wahr. Es wird ruppiger im Land (ich spreche jetzt vor allem von Deutschland), die Leute werde unhöflicher und unaufmerksamer. Mit dem Phänomen habe ich mich in meinem Buch „Die Erfindung der „Eleganz“ auseinandergesetzt. Darin skizziere ich die Entwicklung einiger Standards im sozialen Miteinander (Aufmerksamkeit, Einfühlungsvermögen, Rücksichtnahme) im Paris des 17., 18. Jahrhunderts. Aber der Impuls für das Buch kommt aus der Gegenwart: Ich wundere mich fast täglich, wie sehr der Sinn für ein angenehmes Miteinander schwindet, wie sehr Rücksichtlosigkeit und Egozentrik zunehmen. Der Gedanke, dass es immer auch noch andere Menschen auf der Welt gibt, ist offenbar auf dem Rückzug. Das beunruhigt und beschäftigt mich im Kleinen sehr.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Ich zucke immer zusammen, wenn es heißt, Kunst und Kultur sollten soziale oder gar politische Funktionen erfüllen. Das ist nicht ihre Aufgabe, zumindest nicht ihre explizite Aufgabe.
Kunst und Kultur, das heißt für mich, der Mensch zeigt sich selbst, wozu er fähig ist, wie sehr er über sich selbst hinauszugehen vermag. Das Solo eines Jazzmusikers, die Linie einer Malerin, dieser und jene Satz in einem Gedicht, einem Roman: Das kann mich ergreifen, das gibt mir eine Ahnung von dem, was sein kann. Offen gestanden: Ich habe an die Kunst durchaus transzendente Erwartungen. Sie möge mich erheben, Bewunderung auslösen, dankbar sein lassen für die Welt jenseits des Klein-Klein, in der ich gewöhnlich lebe. Kunst, das ist Ahnung, die Ahnung von etwas Besserem, es ist der Moment, in dem mich etwas trifft, etwas Neues, so kaum für möglich Gehaltenes in mein Leben tritt. Es ist dann auch der Moment, in dem ich mich verbeuge oder jedenfalls verbeugen möchte, vor dem Ungeheuren, das vor mir aufscheint. Und in genau jenem Moment frage ich mich dann: Wirkt dieses Ungeheuerliche vielleicht nicht doch unmittelbar politisch – unmittelbar und doch auf Umwegen?
Ich selbst habe vor vielen Jahren Romanistik studiert – weil mich ein paar Zeilen von Albert Camus und Marcel Proust so ergriffen haben. Dank dieser und vieler anderer Autoren setze ich mich seit Jahren mit Frankreich auseinander, sie haben mich dazu gebracht, die Sprache zu lernen, eine andere Wirklichkeit als meine eigene zur Kenntnis zu nehmen. Noch ein Beispiel: Seit ich, ebenfalls mittlerweile vor Jahrzehnten, zum ersten Mal Flamenco gehört habe, habe ich mich von der Schönheit, der Raffinesse und Kraft dieser Musik im Grunde nicht erholt. Ich bin ihr erlegen. Das hat mich dann angeregt, mich auf die Spuren des Flamenco begeben, den Umständen nachzugehen, dank derer eine solche Musik, eine solche enorme Kunst überhaupt möglich wird. So ist mein Buch über den Flamenco entstanden. Und so geht es eigentlich immer mit der Kunst: Mich trifft eine Zeile, ein Ton, eine Farbgebung, und schon bin ich in Asien, in Afrika, dem Nahen Osten, der Kunst und den Künstlerinnen auf der Spur. Ich folge ihnen ihrer Kunst wegen – aber nicht, weil sie mich politisch bewegen wollen.
Die List der Kunst ist aber: Durch ihre Schönheit bewegt sie mich auch politisch: Indem ich auf jene Orte schaue, an denen sie entsteht. Der Dialog kommt in Gang.

Was liest Du derzeit?
Ein Buch über den Tanz, nämlich nämlich Alessandro Pontremoli, „La danza: storia,teoria, estetica nel novecento“, dazu dann den Folgeband zur Gegenwart. Das beschäftigt mich zur Zeit: Die Ausdruckskraft des Körpers. Ist es nicht erstaunlich, wie faszinierend wir als Körper aufeinander wirken, wie sehr wir uns körperlich einander mitteilen, wie sehr wir dank ihrer miteinander kommunizieren? Eine kurze Drehung der Hand, ein Lächeln, eine Schrittfolge: Alles kann Botschaft oder Bedeutung sein. Aber was teilt uns der Körper mit, was uns die Sprache – vielleicht – verschweigt? Diese Frage stellt sich angesichts des Tanzes, aber längst nicht nur bei ihm. Wir neigen dazu, uns als intellektuelle Wesen zu verstehen (jedenfalls tue ich es). Aber alles, was wir tun, was wir sind, setzt den Körper voraus. Wir können nicht ohne ihn, weil wir ja Körper sind. Derzeit höre ich nicht auf, mich darüber zu wundern.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Das Mantra: Zum akademischen Raum haben die Polizei und die Gemeinheit keinen Zutritt.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage III

Vielen Dank für das Interview, lieber Kersten, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Buchprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Kersten Knipp, Schriftsteller, Journalist
Zur Person _ Kersten Knipp lebt seit vielen Jahren in Köln. Gereist – im Kopf, im Zug und im Flugzeug – ist er von dort immer wieder ins Ausland, nach Frankreich zunächst, dann in die anderen romanischen Länder, ganz wesentlich auch nach Brasilien, der Sprache und der verhaltenen Eleganz der Bossa Nova wegen.
Studiert hat er Romanistik und ist sich inzwischen sicher: Er würde das noch einmal tun (vermutlich könnte er gar nicht anders). Entstanden sind so einige Bücher über romanische Themen, teils mit Abstechern ins feinkörnig Subtile, so etwa in seinem jüngsten Buch „Im Gespräch“. Irgendwann, fast über Nacht, drang ihm die Schönheit des Arabischen ins Ohr, das er dann lernte – nicht zuletzt als Hommage an die Globalisierung, die den europäischen Horizont auch sprachlich weitet. Romantisch (Palmen, Kamele, Wüstenwege) fand er die Region auch mal, allerdings nur kurze Zeit. Als Journalist für die Politik im Nahen Osten weiß er um die finsteren Seiten der Region, an deren Entwicklung er mit trotziger Hoffnung weiter glauben will.
Aktuelle Bucherscheinung _
„Die Erfindung der Eleganz“ Knipp, Kersten. Europa im 17. Jahrhundert und die Kunst des geselligen Lebens. Reclam Verlag. 2022

„Ein Buch, das europäische Kulturgeschichte spannend wie variantenreich öffnet!
Literatur outdoors
https://wordpress.com/post/literaturoutdoors.com/60445
Bibliographie:
„Flamenco“, Suhrkamp. 2006
„Das ewige Versprechen. Eine Kulturgeschichte Brasiliens“, Suhrkamp, 2013
„Nervöser Orient. Die arabische Welt und die Moderne“, Theiss / WBG, 2016.
„Im Taumel. 1918 – ein europäisches Schicksalsjahr“, Theiss / WBG, 2017
„Die Kommune der Faschisten. Gabriele D’Annunzio, die Republik von Fiume und die extreme des 20. Jahrhunderts, Theiss / WBG, 2018
„Paris unterm Hakenkreuz. Alltag im Ausnahmezustand“, Theiss / WBG, 2020.
„Die Erfindung der Eleganz. Europa im 17. Jahrhundert und die Kunst des geselligen Lebens“, Reclam, 2022
„Im Gespräch. Wie wir einander begegnen“, Zu Klampen Verlag, März 2024.
Fotos_privat
Walter Pobaschnig _ 2.1.2023
schön zu lesen, was er über die kunst schreibt, sagt, denkt.
ich erlebe die welt anders als er, hinsichtlich begegnungen mit anderen und im unterwegs-sein. die menschen sind offener, gesprächsbereiter, hilfsbereiter.
erst gestern, als ich im supermarkt war und versuchte eine packung käse aus der obersten reihe zu ziehen, kam mir ein mann mit rollwägelchen zur hilfe und fragte: kommen sie ran? und ich sagte: ja, das geht gerade noch, danke für ihre aufmerksamkeit.
und das passiert mir sehr oft in den letzten monaten und wochen. dass ich spüre und erlebe: da ist eine offenheit wieder da, eine gegenseitige, wechselseitige aufmerksamkeit, die bereitschaft einander etwas zu sagen, zu lächeln oder sogar zu lachen, sich etwas zu sagen, erbauliches, schönes, für einander offen und da zu sein. einander trost zu spenden, hoffnung zu schenken.
das möchte ich herrn knipp mitteilen. ach, und ich lebe übrigens in berlin, wo das miteinander häufig „ruppig“ war oder dies so fast schon erwartet ist. doch es zeigt sich ganz anders, zumindest mir.
danke für das interview.
liebe grüße und beste wünsche aus berlin, m.
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