Liebe Susmita Paul, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Zurzeit bewege ich mich auf einem schmalen Grad zwischen der kreativen Dimension des Schreibens und der handfesten Dimension der Jobsuche. Die Stunden meines Tages sind ungleich verteilt zwischen Arbeiten aus Leidenschaft und Arbeiten fürs Überleben. Um meine innere Flamme am Leben zu erhalten, schreibe ich oder bereite meine eigene Radioshow vor. Ich suche einen Vollzeitjob als Content Writer und das beinhaltet nicht nur Jobsuche und Bewerbungen, sondern auch Networking, was eine Kunst für sich ist. Da nun Weihnachten vor der Tür steht, macht es mir gerade Spaß Zentangle-Kunstwerke als Geschenk für einige meiner engen Freunde hier in Graz zu gestalten.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Das ist bestimmt Achtsamkeit. Wir können nicht länger wie Zombies leben und uns nur auf unsere persönlichen Bedürfnisse konzentrieren und unsere Gier stillen. Ob wir es uns eingestehen oder nicht, die Realität ist, dass wir alle im selben Boot sind. Wenn wir diese Verbundenheit nicht wahrhaben wollen, werden wir blind in Entscheidungen getrieben, die, so glauben wir, nicht einmal kleine Wellen erzeugen würden. Tatsächlich sind wir aber Teil einer großen Welle! Deswegen ist es wichtig, dass wir unserer Zusammengehörigkeit treu bleiben und zugleich nicht vergessen, dass jeder einzelne Millimeter der Welle zur Entstehung von deren Kamm und Tal beiträgt.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Es ist etwas unheimlich, dass Sie diese Frage stellen. Über die letzten Jahre hatte ich jedes Mal, wenn der Herbst in den Winter überging, diese Offenbarung, dass es Zeit für Neuanfänge ist.
Der Weg nach vorne ist nicht nachhaltig zu meistern, wenn die Gegenwart stets die Vergangenheit schultern muss. Genauso wenig Sinn macht es aber in einer Blase einer in Aussicht gestellten Zukunft zu leben. Die einzige Möglichkeit zu leben ist, wie es Aldous Huxley in Schöne neue Welt ausdrückt, im „Hier und Jetzt“. Das bedeutet aber nicht, die Vergangenheit zu leugnen oder die Möglichkeiten der Zukunft, die die Gegenwart in ihrem Kern trägt, abzulehnen.
Es heißt, die Menschheit würde nicht aus der Geschichte lernen. Fehltritte werden ständig wiederholt. In solch einem Szenario fungieren Literatur und kreative Tätigkeiten wie ein magischer Ball, der sich nicht nur linear über die Zeiten hinweg ausdehnt, sondern auch vertikal durch die Schichten aus Masken dringt, die sich uns unbewusst auf unsere Gesichter gelegt haben.
Dieser magische Ball der Literatur und der Künste hat die Aufgabe, die steifen Schichten der Konformität und der Schweigekultur abzutragen. Was am Ende dieses Schaffensprismas verbleibt, ist nicht immer makellos. Aber auch eine Lotusblüte gedeiht aus Dung, nicht wahr? Schlagen wir also unsere Wurzeln tiefer, sodass wir Flügel bekommen und den Himmel erreichen können.
Was liest Du derzeit?
Ich lese gerade zum wiederholten Mal Das Narrenschiff von Sebastian Brant und Briefe an Theo von Vincent Van Gogh als Erfahrung des Lesens während des Schreibens für ein gemeinschaftliches Projekt mit einem niederländischen Autor. Des Weiteren lese ich Hieroglyphen verstehen: Eine Einführung. Das Buch wurde ursprünglich auf Englisch von Hillary Wilson verfasst und von Peter E. Maier ins Deutsche übersetzt.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Ich möchte gerne eine Definition des tschechischen Wortes „Lítost“ teilen, die Milan Kundera in Das Buch vom Lachen und Vergessen formuliert:
„Die erste Silbe, die gedehnt und betont ausgesprochen wird, klingt wie die Klage eines einsamen Hundes. In anderen Sprachen finde ich kein Äquivalent, obwohl ich mir nur schwer vorstellen kann, dass die menschliche Seele ohne dieses Wort zu verstehen ist. […]
Lítost ist ein qualvoller Zustand, der durch den Anblick unserer unvermutet entdeckten Erbärmlichkeit ausgelöst wird.
Eines der bewährten Heilmittel gegen die eigene Erbärmlichkeit ist die Liebe. Denn wer wirklich geliebt wird, kann nicht erbärmlich sein. […]
Das Absolute der Liebe ist im Grunde genommen der Wunsch nach absoluter Identität. […] Sobald die Illusion der absoluten Identität aber negiert wird […], wird die Liebe zu einem unversiegbaren Quell jener großen Qual, die wir Lítost nennen. […]
Lítost ist folglich charakteristisch für das Alter der Unerfahrenheit. Sie ist eine der Zierden der Jugend.“ – Aus dem Tschechischen von Susanna Roth (1992, S. 164-166)
Vielen Dank für das Interview, liebe Susmita, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
Interview Übersetzung _ Lisa Schantl
5 Fragen an Künstler*innen:
Susmita Paul, Schriftstellerin
Zur Person _ Susmita Paul ist eine bilinguale Schriftstellerin aus Indien. Sie erreichte den zweiten Platz des 50-Cent-Preises im Rahmen des Grazer Poesieautomaten Projekts 2021. Ihre Texte auf Bengali und Englisch erschienen bisher in Kaurab, Tint Journal, Through the Looking Glass: Reflecting on Madness and Chaos Within, Saaranga, The New Amrita Bazar Patrika, Poetry and Covid, und weiteren. Paul ist Herausgeberin von The Pine Cone Review, eine von Zentangle inspirierte Künstlerin und gibt Creative Writing Workshops. Derzeit arbeitet sie an einem Manuskript zum Thema Trauer.
Aktuelles internationales Buchprojekt mit Laura Theis_
Tinted Trails
Exploring Writings in English
as a Second Language
Text von Susmitta Paul, die in Tinted Trails erschienen ist: Kurzgeschichte „The River-Song“ (Neuveröffentlichung)

AN ANTHOLOGY BY TINT
EDITED BY
Lisa Schantl, Filippo Bagnasco, Andrea Färber and Chiara Meitz
GUEST EDITORS
Marjorie Agosín and Juhea Kim
CONSULTING EDITORS
Matthew Monroy and John Salimbene
ART CURATOR
Vanesa Erjavec
FORUM STADTPARK
Tined Trails
Exploring Writings in English as a Second Language
features a best-of Tint Journal texts from issues #01 to #10, as well as new works by renowned ESL authors to show the wide and bright kaleidoscope of worldwide literature in English.
The book holds 35 texts, both poetry and prose, organized in four chapters, carefully assembled by guest editors Marjorie Agosín and Juhea Kim, consulting editors John Salimbene and Matthew Monroy, and the anthology editors Lisa Schantl, Filippo Bagnasco, Andrea Färber and Chiara Meitz. The artworks were curated and the illustrations drawn by Tint Art Editor Vanesa Erjavec.
Release: November 2023
Publisher: Verlag FORUM STADTPARK
Price: € 22,-
ISBN: 978-3-901109-84-3

Tint Journal is the leading online literary journal for those who write prose and poetry in English as their second or non-native language.
By choosing English as their creative tool, these writers provide an extensive audience with a window into their values, ideas, and beliefs. Coming from a wide variety of backgrounds, they bridge borders and blend cultures, offering the purest and deepest understanding of their fiction and nonfiction worlds.
Over the years, Tint has become a multifaceted platform for emerging
and established ESL writers, and it encourages them to embrace their
non-native English backgrounds. Their unique linguistic landscapes shape
their creative voices and influence their readers’ experiences. This quality
has been ignored— even shamed— for too long.
Through the innovative, tinted lenses of ESL writers, Tint shines a light on the ways that authors all over the globe can contribute to what we know as literature in English
https://tintjournal.com/tinted-trails
Release: November 2023
Publisher: Verlag FORUM STADTPARK
Price: € 22,-
ISBN: 978-3-901109-84-3
Fotos _ presentation/readings/workshops Graz 11/23









Foto Portrait_ Andreas Kowascik
Fotos presentation „Tinted Trails“_Clara Wildberger
29.11.2023 _Walter Pobaschnig