Liebe Tanja Leonhardt, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Unterschiedlich. Wenn ich einen kalligrafischen Job in einer der Rhein/Main Metropolen habe, kämpfe ich mich auf der A5 übers Frankfurter Kreuz und tue einige Stunden lang so, als wäre ich eine andere.
Habe ich das nicht, genieße ich es, sehr langsam wach zu werden und in den Tag zu starten. Ich begrüße meine Hunde, schaue, ob die Vögel auf der Terrasse noch Futter haben und notiere die Laune von Wetter und Garten. Dann gehe ich in mein Atelier und springe die nächsten Stunden zwischen verschiedenen Projekten hin und her- Aufträge abarbeiten, Künstlerbücher machen, Texte schreiben und feilen (ich gehe mit den Hunden spazieren) Buchdecke färben, Ausstellungen planen, am Computer rumsitzen, Videos schneiden, e-mails beantworten ,…

Foto: Tanja Leonhardt-Seidensprachen-Landart _
Installation von Sprache und Bildern in der Natur.
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Diskussionskultur
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Kunst an sich zu?
Ich will mir gar nicht zutrauen zu sagen, was für alle und die Welt wesentlich sein wird, das wird sich weisen. Das Durcheinander der Stimmen, die alle eine Meinung zu allem haben, ist mir unerträglich geworden. Natürlich drängen die Probleme des Klimas, der Kriege und verhärteten Fronten in allen Fragen – aber Kunst sollte hierfür nicht instrumentalisiert werden, wie es in Wettbewerbs-Ausschreibungen gerne gemacht wird. Mich bedrückt zunehmend, dass dabei ein ursprüngliches Wesen der Kunst, das Fragen nach der conditio humana, nach Körper und Seele in der Welt, kaum noch Bedeutung zu haben scheinen. Und ich kann dieses Missverhältnis auch nicht auflösen! Welches Gewicht hat es noch, über einen Zaunkönig oder eine Füchsin zu meditieren, wenn zur gleichen Zeit junge Frauen zerfetzt werden, oder kleine Jungs mit dem Gesicht nach unten auf Sandstränden liegen? Nelly Sachs schrieb:“ Immer dort wo Kinder sterben werden die leisesten Dinge heimatlos.“ Vielleicht kann Kunst nicht mehr tun, als den leisesten Dingen zu lauschen, dabei nicht zerbrechen und ein Ort der (kollektiven) Trauer werden.
Was liest Du derzeit?
Louise Glück, „Wilde Iris“
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Go and live for a while among the standing people, and learn their ways“
Black Elk

Foto: Lyriklesung im Wald bei der Sonnwendfeier am historischen Tanzplatz.
Vielen Dank für das Interview, liebe Tanja, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Tanja Leonhardt, Bildende Künstlerin
Zur Person _ Tanja Leonhardt
Freie Bildende Künstlerin
wurde1966 geboren und wuchs in Groß-Gerau auf.
Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder, seit 2018 lebt sie in Schotten im Vogelsberg.
Germanistik- und Kunststudiums an der Johannes-Gutenberg Universität in Mainz, letzteres mit dem Schwerpunkt Schriftkunst, Diplom 1991.
Sie ist seit dem Studium ist die als freischaffende Künstlerin tätig, erledigt kalligrafische Aufträge für Städte und Institutionen. Daneben pflegt sie ein freies künstlerisches Werk, in dem es zumeist um Sprache in Zwischenbereichen geht.
Vor der Corona-Zäsur bereiste sie über zehn Jahre lang die nordeuropäischen Länder und betrieb das Landart-Projekt „Seidensprachen in der Natur“, bei dem Sprache und Bilder auf großen Seidenfahnen in der Natur installiert wurden.
Seit Corona fertigt sie in der Technik des Eco-dyeing Künstlerbücher an, in denen die Naturdrucke traumhafte Erzählungen abgeben.
Sie entwickelte zahlreiche Schulprojekte, bei denen über Schreib-Performances die (Oberstufen-)Literatur körperlich erfahrbar gemacht wurde.
Sie schreibt seit dem Studium Lyrik, die man in ihren Künstlerbüchern findet, in Anthologien und Zeitschriften oder direkt auf ihren Lesungen.
Mit dem Künstlerkollegen Stephan Flommersfeld tauscht und verwebt sie Texte, die dann zu Hörspielen gerinnen. Im Zuge dieser Erfahrung entstehen seit einiger Zeit auch Videopoetries, die man auf ihrem Youtube-Kanal erleben kann.
Der Rest – und vieles mehr- ist auf ihrer Homepage: http://www.atelierleonhardt.de dokumentiert.
Fotos_privat
16.11.2023 _Walter Pobaschnig