Liebe Christa Nebenführ, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Leider ist dieser seit dem Auszug der Kinder vor ein paar Jahren ein ziemliches Kuddelmuddel. Wenn ich an einem konkreten Manuskript mit Abgabetermin dran bin, dann setze ich mich gleich nach dem Frühstück an den Computer und bleibe so lange dran, wie ich es aushalte. Dazwischen gibt es Schlaf- und Esspausen.
Ansonsten ist der Ablauf ungefähr. Frühstück, Mittag- und Abendessen und dazwischen mal Administration, mal Haushalt, mal ins Grüne, mal Recherche, mal Lesen, mal Notizen machen, mal zum Arzt oder zum Brillenkauf usw.
Derzeit versuche ich, Unterlagen und Bücher zu sortieren und die – nach dem Tod der Eltern und dem Auszug der Kinder – vollgeräumte Wohnung umzuschlichten, um Schlaf- und Arbeitsbereich zu trennen.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Dass Menschen nicht als Kostenfaktor berechnet werden, sondern allen das Recht auf ein sinnerfülltes Leben zugestanden wird. Natürlich auch, dass demokratische Verfassungen und Redefreiheit (journalistisch und persönlich) weltweit als hohes Gut erhalten bzw. erkämpft werden können.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Eine nahezu unlösbare Frage! Denn wie der Neubeginn oder Aufbruch ausfallen wird, ist ungewiss. Vielleicht brennen wieder Bücher … Was ist überhaupt Literatur?
Mit den aufkommenden Triggerwarnungen und Korrekturen verstörender Passagen wird Literatur politisch vereinnahmt und ihrer Möglichkeiten beraubt, Grenzen, die uns das reale Leben auferlegt, zu überschreiten.
Ich vermute, dass Literatur nicht mehr, aber auch nicht weniger vermag, als zu trösten. Mich jedenfalls.
Was liest Du derzeit?
„Bitternis“ der polnischen Schriftstellerin Joanna Bator.
Ein über 800 Seiten langes Buch über die Geschichte der Frauen von 4 Generationen. Die Stärke des Buches liegt in der – offenbar grandios übersetzten – präzisen Sprache, den sparsamen, aber umso stimmigeren Metaphern, den unscheinbaren Details, die immer wieder aufgenommen werden, den teils absurden oder skurril anmutenden Episoden und dem, trotz all dieser Kunst packenden Spannungsbogen. Ich teile an und für sich Marcel Reich-Ranickis Diktum, dass Romane mit rund 400 Seiten ihr Auslangen finden sollten, muss aber einbekennen, dass es Ausnahmen gibt wie dieses Buch. Eine kleine Beobachtung mag die elegant erzeugte Spannung wiedergeben: Am Ende eines bizarr-sadistischen Rituals des Vaters gegenüber seiner Tochter Berta liest man: <Im Sommer 1938 tat sie dies alles zum letzten Mal, dann zog sie ihr Kleid wieder an und ging das Abendessen machen.> Es wurde in der sehr langen Beschreibung davor nie drauf hingewiesen, dass sie ihr Kleid ausgezogen hatte oder hatte ausziehen müssen. In dieser lapidaren Erklärung zum Schluss steigert sich das ganze Ausmaß der Grausamkeit nahezu beiläufig.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
<Mit der Vorstellung von Mord verbindet sich oft der Gedanke an Meer und Matrosen.> Jean Genet: Querelle. Anfangssatz.

Vielen Dank für das Interview, liebe Christa, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Christa Nebenführ, Schriftstellerin
Zur Person _ Christa Nebenführ
1960 geb. in Wien, verheiratet, 2 Töchter (geb. 1998 und 2000)
1980-84 Schauspielerin in der BRD,
1985 Hospitanz bei George Tabori an den Münchner Kammerspielen
seit 1986 Autorin;
Mag. phil. (Sponsion 1996 bei Prof. Rudolf Burger; Auszeichnung; Kulturphil./Erkenntnisth.)
1997 Research Associate, Philosophy Department, SUNY at Stony Brook/USA
1993 – 2004 Kurier-Kolumne
Seit 2001 Features, Rezensionen, Essays für Ö1, Presse, Standard, Buchkultur, Wienerin.
2002 Ausbildung zur Erwachsenentrainerin (Train the Trainer)
Lehrtätigkeit (BÖS – Lehrgang für Schreibpädagogik, Werkstätte Kunstberufe, VHS)
Moderation diverser Kulturevents
Veranstaltungsdurchführung, u. a. 2003 – 2018 jährlich die Sommerlesereihe im Café Prückel
Mitglied der IG Autoren, Vorstandsmitglied des Literaturkreises Podium und der GAV.
Preise und Auszeichnungen
1993 Preis der Arbeiterkammer Kärnten für Literatur der Arbeit
1996 Förderungspreis des Theodor Körner Fonds
2007 und 2012 Werkstipendien der LVG
2021 Jahresstipendium für Literatur Stadt Wien
Einzelpublikationen:
| 1994 | „Liebe ist die Antwort, aber was war die Frage?“ (Hrsg.) Wr. Frauenverlag |
| 1995 | „Erst bin ich laut…“ Gedichte, Verlag Grasl, BadVöslau |
| 1997 | „Inzwischen der Zeit“ Gedichte, Verlag Deuticke, Wien |
| 1997 | „Sexualität zwischen Liebe und Gewalt.“ Milena Verlag, Reihe Wissenschaft |
| 1998 | „Die Möse. Frauen über ihr Geschlecht.“ Promedia Verlag, Wien |
| 2006 | „Blutsbrüderinnen“, Roman, Milena Verlag Wien |
| 2013 | Podium Länderheft mit kroatischer Gegenwartsliteratur (Hrsg.) |
| 2020 | Podium Porträt Christa Nebenführ mit 49 Gedichten |
| 2023 | „Den König spielen die anderen“, Roman, Klever Verlag Wien |
Fotos_ 1 Dominik Hillisch; 2 Eva Schreiber
29.10.2023 _Walter Pobaschnig