
Antje-Kathrin Mettin, Schriftstellerin_ Leipzig_
Lebensort Ingeborg Bachmanns in Wien (1946) _
50.Todesjahr_Ingeborg Bachmann_ Schriftstellerin (25.Juni 1926 Klagenfurt – 17.Oktober 1973 Rom)


















Antje-Kathrin Mettin, Schriftstellerin_ Leipzig_
Lebensort Ingeborg Bachmanns in Wien (1946) _
50.Todesjahr_Ingeborg Bachmann_ Schriftstellerin (25.Juni 1926 Klagenfurt – 17.Oktober 1973 Rom)
Zum Projekt: Das Bachmann Projekt „Station bei Bachmann“ ist ein interdisziplinäres Kunstprojekt an den Schnittstellen von Literatur, Theater/Performance und Bildender Kunst.
Dabei kommt den topographischen und biographischen Bezügen eine besondere Bedeutung zu, indem Dokumentation, Rezeption und Gegenwartstransfer, Diskussion ineinandergreifen.
Künstler:innen werden eingeladen an diesem Projekt teilzunehmen und in ihren Zugängen Perspektiven zu Werk und Person beizutragen.
Den Schwerpunkt bildet dabei Werk und Leben Ingeborg Bachmanns. Ebenso weitere Künstler:Innen.
Liebe Antje-Kathrin Mettin, wir sind hier an persönlichen wie literarischen Bezugspunkten der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann in Wien. Ist es auch in Deinem Schreiben so, dass Du Lebensorte als Ausgangspunkte aufnimmst?
Für mein Schreiben spielen Lebensorte immer wieder eine große Rolle, allerdings auf ganz verschiedene Art. Aktuell bin ich etwa mit wichtigen Orten meiner Kindheit befasst, an die ich schreibend zurückkehre – und zwar deshalb zurückkehre, weil ich an diesen Orten Erfahrungen gemacht habe, die mich nie losgelassen haben, die mir immer wieder – beharrlich und unbeabsichtigt – in Erinnerung gekommen sind und von denen ich erst allmählich zu verstehen beginne, dass und warum sie bedeutsam sind. Bedeutsam für mich, aber bedeutsam auch als Erfahrungen, die andere womöglich ähnlich gemacht haben, an anderen Orten. Und doch wieder an ähnlichen Orten, denn so arg unterscheiden sich die vorfindbaren Lebensorte unserer Gesellschaft leider doch oft nicht.

Insofern spielen ›Lebensorte‹ noch in anderer Hinsicht eine ganz zentrale, vielleicht sogar die tragende Rolle für mein Schreiben: im Sinne nämlich einer gewissermaßen kindlichen Suche nach Orten, an denen es sich überhaupt leben lässt. Nach Orten, die entweder anders sind als gewohnt, oder nach ›normalen‹ (Un-)Lebensorten, an denen etwas Neues, Unerwartetes, ›Anormales‹ geschieht und das sie erst auf diese Weise eigentlich zu ›Lebensorten‹ werden lässt.

In diesem letzten Sinne kann für mich eigentlich alles zum Lebensort werden: die Blumen im Topf etwa, auf denen sich Licht in einem Wassertropfen bricht und wodurch das Leben plötzlich wie von Zauberhand reich und üppig wird. Oder Orte wie das Treppenhaus jener kurzzeitigen Bleibe Ingeborg Bachmanns – ein Ort, an dem sie nicht eigentlich ›gelebt‹ hat, aber an dem sie beim Durchqueren doch Empfindungen hatte, ein Ort, der lebendige Empfindungen in ihr verursacht hat – und der durch mein Wissen darum wieder ganz eigenes Leben in Konstellation mit meinen Bachmann-Lektüren in mir hervorruft. In diesem Sinne sind auch Bücher Lebensorte. Schließlich können auch Bücher Orte sein, an denen etwas ganz und gar Lebendiges passiert, nämlich eine Begegnung über Raum und Zeit hinweg, die dennoch ganz physisch ist, durch Bauch, Bein, Nerven und Kopf geht. Von Begegnungen solcher Art, von Lebensorten solcher Art sind meine Texte durchgehend getragen.

Welche Bezüge gibt es von Dir zu Ingeborg Bachmann?
Neben Annette von Droste-Hülshoff war Ingeborg Bachmann eine der ersten Schriftstellerinnen, die ich bewusst als weibliche Schriftstellerinnen kennengelernt habe – und von deren Themen und deren Sprache ich sogleich erschüttert war und tief berührt worden bin. Was ich von ihr zunächst gelesen habe – Undine geht, Simultan, Das dreißigste Jahr – war anders, sinnlich, gleichzeitig scharf und auf gewisse Weise klar und kalt, rebellischer als alles, was ich bis dahin kannte. Ingeborg Bachmann ist gewissermaßen eine der ersten schreibenden ›Schwestern‹, denen ich literarisch begegnet bin und denen ich mich verbunden gefühlt habe. Die Suche nach Schwestern nämlich: nach Frauen, denen ich mich auf irgendeine Art nahe, ›verwandt‹ fühle – bestimmte Schriftstellerinnen etwa, bestimmte Zeitgenossinnen, auch mythologische Frauenfiguren – beschäftigt mich stark, es entsteht derzeit ein Gedichtzyklus, der eben diesen ›Schwesternschaften‹ nachspürt und der nicht zuletzt auch an Ingeborg Bachmann adressiert sein wird.

Möchtest Du einen Text Bachmanns hervorheben?
Eines von Ingeborg Bachmanns letzten Gedichten – Delikatessen – arbeitet und arbeitet heftig in mir fort – wohl auch, weil mich die Frage umtreibt, wozu all das Schreiben, wie mit den Worten umgehen, wo doch allenthalben Worte als ein Nichts, als etwas Evidentes, Offenkundiges, auch Gewaltvolles verwendet werden und selten als etwas, das wundern macht und staunen lässt. Worte werden oft für Gewalt verwendet – und an ihnen wird Gewalt verübt. Aber auch Dichtung, Kunst können etwas Gewaltvolles annehmen, zumal, wenn sie eh nur das Bestehende verfestigen helfen und es gar ästhetisieren. In diesem Sinne möchte ich zwei besonders prägnante Stellen des Gedichts zitieren, die diese Spannung – Gewalt an, Gewalt durch Sprache – in schillernder Ambivalenz namhaft machen:
» Soll ich
eine Metapher ausstaffieren
mit einer Mandelblüte?
die Syntax kreuzigen
auf einen Lichteffekt?
Wer wird sich den Schädel zerbrechen
über so überflüssige Dinge – «
» Soll ich
einen Gedanken gefangennehmen,
abführen in eine erleuchtete Satzzelle?
Aug und Ohr verköstigen
mit Worthappen erster Güte?
erforschen die Libido des Vokals,
ermitteln die Liebhaberwerte unserer Konsonanten? «





Was sind Themen in Deinem Schreiben?
Für mein Schreiben ist es essentiell, dem Kleinen und Unauffälligen, dem, was sonst leicht dem Blick und der Wahrnehmung entgeht, meine Aufmerksamkeit zu schenken – und mich über das Unauffällige zu wundern. Man kann das auch als ein Zeitnehmen beschreiben: ich versuche, mir Zeit für das zu nehmen, was sonst selten Zeit geschenkt bekommt. Mich von demjenigen Kleinen zum Innehalten bewegen zu lassen, was bei genauem Hinschauen einen (freudigen) Schauer auszulösen im Stande ist. Die Zeit fürs Kleine ist darum ein wesentliches Thema für mich, oder vielmehr: bedingt die konkreten Themen. Es wird so viel gemeint, es wird so grob gesprochen, es ist so vieles vermeintlich politisch und engagiert – und mir wird dabei oft ganz ungut zumute, denn ich habe das Gefühl, das vermeintlich ›Politische‹, ›Aktuelle‹ ist oft ein Schachzug, Kunstschaffen und Sprachliebe zu rechtfertigen, sie gut zu verkaufen. Das ist natürlich nicht die Schuld eines Einzelnen. Susan Buck-Morss hat es in Bezug auf Walter Benjamin einmal wundervoll auf den Punkt gebracht: das Politische ist nicht unbedingt das, was auch thematisch ›politisch‹ zu sein scheint. Politisch im emphatischen Sinne kann auch das sein, was zur (Re-)Sensibilisierung der Wahrnehmung beiträgt – einer Wahrnehmung, die sich im Laufe der Neuzeit und Moderne mehr und mehr abgedichtet hat, die mehr und mehr ›anästhesiert‹ worden ist. Nur eine sensible Wahrnehmung ermöglicht wirklich menschliches und in diesem Sinne: politisches Miteinander: »He [Benjamin] is demanding of art a task far more difficult – that is, to undo the alienation of the corporal sensorium, to restore the instinctual power of the human bodily senses for the sake of humanity’s self-preservation, and to do this, not by avoiding the new technologies, but by passing through them.«[1] Für mich bedeutet ›Politisches‹ darum vielmehr, lebendige, sinnliche, intensive Momente aufzuspüren – solche Momente, in denen das Erstarrte, ›Wohlgefügte‹, ›Normale‹ und ›Gesetzte‹ durcheinander gerät und in denen sich so etwas wie Lebenslust und Glück Bahn bricht. Ich denke, nur darin liegt überhaupt die Kraft zur Rebellion und zum Verändern, zum Aufsprengen. Nicht im Betonen, dass etwas verändert werden muss und im Aufstellen neuer Glaubenssätze, sondern in der Suche nach den kleinen Ahnungen von dem, was ein glückliches Leben bedeuten könnte und das verteidigt oder auch freigesprengt werden muss. Denke ich an graue Büroräume, an graue Denkräume, an scheinbar unabänderliche Gesetzmäßigkeiten, Vorschriften und Pflichten, verliert sich dagegen aller Lebenswille. Von diesen Dingen versuche ich zu schreiben.

Wie war Dein Weg zur Literatur und welche Schwerpunkte gibt es da?
Die Frage, wie mein Weg zur Literatur war, ist gar nicht so leicht zu beantworten – denn wo beginnt Literatur? Als Kind habe ich, wie wohl im Grunde alle Kinder, Geschichten jeder Art über alles geliebt. Geschichten, die ich an unterschiedlichen Orten aufgeschnappt habe – in der Schule, beim Spielen, auch in der Kirche (ein reicher Geschichtenfundus!), in Filmen und freilich auch in Büchern. Und sehr früh habe ich angefangen (vor dem Lesen), selbst Geschichten zu erdenken und zu erträumen – im Spiel mit anderen Kindern, aber auch still, innerlich. Ich denke heute, auf gewisse Weise war das mein Weg zur Literatur – es lag in all diesen Geschichten eine Ahnung davon, dass die Welt reicher, schöner ist als wie sie den Kindern von den Erwachsenen (meist) gezeigt wird. Insofern habe ich mich immer besonders angezogen von derjenigen Literatur gefühlt, die einer gewissen Schönheit, Andersartigkeit, Fülle nachspürt. Dass ich damit begonnen habe, meine stillen Gedanken und Wortgebilde auch aufzuschreiben, war ein recht später Schritt – und sie auch öffentlich zu machen, noch ein anderer. Ich habe es mir nie vorgenommen, habe mir nie gesagt: Jetzt fange ich zu schreiben an. Es ist einfach irgendwann passiert, nach und nach – und jetzt kann und mag ich nicht mehr aufhören damit. Es ist so, als hätte ich endlich zu etwas gefunden, was ich lange verdrängt, vermisst habe. Manchmal reibe ich mir selbst ganz verwundert die Augen und wundere mich, wie das eigentlich passiert ist. Ich hätte auch niemals gedacht, dass Lyrik mir so nahe steht, scheinbar ist es aber so, sie bildet momentan den Schwerpunkt meines Schreibens, aber ich bin auch mit Erzählungen und Theaterstücken befasst.

Was sind Deine derzeitigen Projektpläne?
Zur Zeit arbeite ich an vielen verschiedenen Projekten, so dass mir zuweilen etwas schwindelig wird und ich hoffe, ihnen allen auch tatsächlich über kurz oder lang gerecht werden zu können. Verschiedene Gedichtzyklen wachsen derzeit und kommen ihrem Abschluss näher (›Durchbrüche – oder auch: Epiphanien im Bade‹, ›Schwesternschaften‹, ›Farbsuche‹ und ›Mikroskopie : Krustentiere‹), ich schreibe kontinuierlich an meinen ›Mikrogrammen‹ auf Instagram weiter, es ist ein Buch zu Walter Benjamin und seinem Begriff des Erzählens im Entstehen inbegriffen, ein Musiktheaterprojekt wartet auf Fortsetzung, eine Erzählsammlung, die ich vorerst ›Kindliche Oppositionen‹ getauft habe, drängt mich zum Weiterschreiben und ein kleines Theaterexperiment habe ich mir für den Winter vorgenommen, in dem ich zu Texten Paul Scheerbarts mit Licht und Schatten laborieren möchte. Andere Projekte warten auf günstige Gelegenheiten und dürfen momentan noch ruhen.

Welche Bezüge gibt es von Dir zu Wien?
Mit Wien verbindet mich sehr, sehr viel – ich liebe Wien über alles und möchte über kurz oder lang hier auch leben. Es ist eine sehr besondere Stadt, historisch, durch all die vielfältigen Kulturen und verschiedenen Einflüsse, die hier zusammengekommen sind. Ich denke allein schon an Sigmund Freud und die Psychoanalyse, an Schriftsteller wie Joseph Roth, Peter Altenberg, Karl Kraus, an Künstler wie Egon Schiele, Gustav Klimt oder Otto Wagner, an Komponisten wie Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven, Arnold Schönberg. Und nicht zuletzt wegen der besonderen Theatergeschichte, vor allem der komödiantischen, schlägt mein Herz wie wild für Wien, zum vielgeliebten Johann Joseph Felix von Kurz, genannt Bernardon, möchte ich in den nächsten Jahren dringen ein Buch schreiben. Und dann gibt es hier natürlich einfach ganz und gar bezaubernde, umwerfende Orte en masse – den Prater, den Zentralfriedhof, die Museen, die Kaffeehäuser, die großartigen Jugendstil-Bauten, das Loos-Haus und so fort. Ich könnte lange weiterschreiben, aber kurzum: In Wien verdichtet sich so vieles, was mit allem, das mir wichtig ist, zu tun hat, dass ich mich kaum einer anderen Stadt ähnlich verbunden fühle.

Welche Eindrücke nimmst Du vom Wohnhaus Ingeborg Bachmanns mit?
Es war für mich eine sehr eindrückliche, sehr ›auratische‹ Erfahrung, an einem Ort sein zu können, an dem Ingeborg Bachmann für gewisse Zeit gelebt hat. Ich habe dort etwas empfunden, was auch ihre Texte in mir immer wieder auslösen: Ein extremes, sehr berührendes Spannungsverhältnis von Weite und Enge. Das sich drehende Treppenhaus etwa ging mir besonders nahe: einerseits lädt es zum Springen und Laufen ein, hat etwas Märchenhaftes – und andererseits erinnert es auch an eben jene Türme in den Märchen, die einsperren und denen man zu entkommen versucht, zu entkommen durch Fenster, die zwar die Sicht nach draußen zulassen, aber doch wieder nur auf enge Hinterhöfe blicken lassen. Diese Spannung von Hoffnung und Eingeschlossensein habe ich stark empfunden, insofern waren auch die Nägel an der Wand im Garten, die etwas verlassen wirkenden hinteren Wirtschaftsräume für mich sehr einprägsam. Wie gerne habe ich mir aber auch vorgestellt, wie Ingeborg Bachmann voller Freude, voller Lebenslust die Treppe entlanggelaufen ist, lachend, glücklich, voller Sehnsucht und Lebensmut.

Darf ich Dich abschließend zu einem Ingeborg Akrostichon bitten?
Ich rannte, lief, verzweifelte am
Namen aller Dinge, die in
Geborgenheit /
GEborgenheit,
GeBorgenheit,
GebOrgenheit /
GeboRgenheit |
GeborGenheit der Buchstaben sich harmlos gaben.
Brach ab, die Reihe unsrer Worte : das Benennen, das zwar das
Atmen nur zu gliedern schien, noch nicht das Leben uns zerstörte; doch
Cassandra brauchte ich nicht, zu wissen, dass auch ein
Höllentor in jedem Nennen lauert und
Macht mit Buchstaben auch Menschen frisst.
Arretiert, festgestellt, ausgetilgt – mein
Nein soll alles mächtig
Nennen übertönen, zerbersten wohlgefügten Rhythmus eines nennend Grauens ¯ ‚

Vielen Dank, liebe Antje-Kathrin Mettin, für Deine Zeit in Wort und Bild bei Ingeborg Bachmann, alles Gute für alle Projekte!
Lieber Walter, einen herzlichen Dank Dir – es war eine wundervolle Erfahrung, gemeinsam mit Dir Ingeborg Bachmann nachspüren zu können, die Hände auf jene Steine, jenes Holz legen zu können, das auch sie angefasst hat. Ich bin ganz berührt davon, wie Du es schaffst, Orte lebendig werden zu lassen, merci beaucoup!


Antje-Kathrin Mettin, Schriftstellerin_ Leipzig_
Lebensort Ingeborg Bachmanns in Wien (1946) _
50.Todesjahr_Ingeborg Bachmann_ Schriftstellerin (25.Juni 1926 Klagenfurt – 17.Oktober 1973 Rom)
[1] Susan Buck-Morss, Aesthetics and Anaesthetics: Walter Benjamin’s Artwork Essay Reconsidered. In: October, Vol. 62. (Autumn, 1992), pp. 3–41, hier: 5.
Station bei Bachmann_Wien
im Interview und szenischem Fotoportrait:
Antje-Kathrin Mettin, Schriftstellerin_ Leipzig
Lebensort von Ingeborg Bachmann Wien (1946)
2023 _ 50.Todesjahr_Ingeborg Bachmann_ Schriftstellerin (25.Juni 1926 Klagenfurt – 17.Oktober 1973 Rom)
Interview und alle Fotos_ Walter Pobaschnig
Walter Pobaschnig