Liebe Loulou Omer, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Tagesablauf im Sommer: je nachdem, wo ich bin, aber zuhause stehe ich meistens früh auf, mit gemischten Gefühlen. Schreiben, viel Kaffee, lesen, recherchieren, ein paar Stunden am Computer mit Produktion und administrativen Sachen.
Dann mache ich mein Bodywork, das ich oft mit meiner Schwester in Tel- Aviv via zoom teile. Weiter Schreiben. Immer wieder dazwischen spiele ich Klavier. Und einkaufen, kochen, für meinen jüngeren Sohn da sein.
Der Winter wird was Neues bringen.

Choreografin, Musikerin und Dichterin
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Ich denke, dass die Angst und der extreme Materialismus Hauptkrankheiten unserer Gesellschaft sind. Wobei, der Materialismus vielleicht der Versuch ist, die Angst zu betäuben. Doch erzeugt er tatsächlich das Gegenteil, da er uns von der Essenz und der Würde unseres Wesens entfernt, und damit uns von uns selbst entfremdet. Ein Teufelskreis.
Könnten wir anstelle von Angst, Frust und einhergehendem Hilflosigkeitsgefühl, uns die Freiheit nehmen, selbst zu bestimmen, womit wir unseren Geist ernähren, mit welchen Ideen, Worten und Emotionen, was für innere Dialogen wir mit uns selbst führen… Wenn wir die Überzeugung hätten, dass wir es selbst bestimmen könnten (vor allem dürfen!), würde es, denke ich, einen herrlichen Befreiungsgefühl erzeugen, eine Freude die, die Zügel übernehmen würde, eine Ermächtigung, die uns woanders führen kann.
Einfacher gesagt als getan. Nichtsdestotrotz:
„La joie en tant que puissance de vie, nous emmène dans des endroits où la tristesse ne nous mènerait jamais.“
Frei übersetzt: „„Die Freude als Lebenskraft bringt uns an Orte, an die uns die Traurigkeit nie bringen würde.“
Gilles Deleuze
Das heißt auf keinen Fall allen Grausamkeit, Ungerechtigkeit, Bosheit, Konformismus und Dummheit dieser Welt zu ignorieren. Man darf wohl und soll sich mit all diesen beschäftigen, sie kritisieren… Die Sache liegt in der Verbindung von einer Art „Grund-Liebe“, als Quelle dieser Haltung, mit einer Freude, die den Akt des Widerstands ernährt.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Kunst zu?
Das wäre ein radikaler Paradigmenwechsel in unserem politischen und kulturellen Denken. Ich weiß natürlich nicht, welche Form das genau nehmen wird, nur, dass es mit dem Wunsch verbunden sein müsste, den Menschen, die Natur und alles Lebende, in ihrer Würde anzuerkennen und zu achten. Das klingt vage und vielleicht auch utopisch, aber ich glaube in dem einen gemeinsamen Nenner zu sehen, als Basis aller möglichen guten, konkreten, neustrukturierenden Ideen.
Dieser Aufbruch ist in diesem Sinne eine Öffnung und Einladung zu einem anderen Denken, zum viel und neu Denken, jeder für sich und miteinander.
Die Kunst hat die Aufgabe und das Privileg neue mentale Räume aufzumachen, mit dem Unbekannten zu experimentieren, „andere Wirklichkeiten“ zu erleben, oder „die Wirklichkeit“ anders zu erfahren. Sie erlaubt uns mit ästhetischen Mitteln etwas zu transzendieren. Und dieses Ästhetische ist mit der Erfahrung von Schönheit verbunden, die ich als einen liebevollen Blick auf die Dinge, auf das Menschsein, das Leben, verstehe. Und in der Liebe findet sich die Freude. Die Kunst ist das Erleben einer Transzendenz, samt aller Emotionen und Gedanken, die unseren Geist in Bewegung bringen. Also, ja, sie hat eine wichtige Rolle.

Was liest Du derzeit?
„L’image survivante“ von Georges Didi-Huberman über Aby Warburg.
Welches Zitat, welche Textstelle möchtest Du uns mitgeben?
„C’était une dictature douce et heureuses contre laquelle on ne s’insurgeait pas… la liberté avait pour visage un centre commercial“
Frei übersetzt:
„Es war eine sanfte und glückliche Diktatur, gegen die man sich nicht auflehnte … die Freiheit hatte das Angesicht eines Einkaufszentrums.“
Annie Ernaux / Les Années
„Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen „
Gilles Deleuze

Choreografin, Musikerin und Dichterin
Vielen Dank für das Interview, liebe Loulou, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Tanz-, Literatur-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Loulou Omer, Choreografin, Musikerin und Dichterin
Zur Person _ Loulou Omer ist Choreografin, Musikerin und Dichterin.
1969, in Tel-Aviv geboren, lebt und arbeitet sie seit 1992 in Europa – über Paris, Brüssel, Wien und Berlin, ist sie heute in Wien angesiedelt.
Seit ihre Kindheit nimmt sie Tanzunterricht und lernt Klavier. Sie studiert Geschichte und Philosophie an der Universität Tel-Aviv und unterbricht ihr Studium, um mit einer Tanz Company auf Europatournee zu gehen, wo sie dann bald ihre eigene choreografische Arbeit ansetzt.
Ihre Tanz- und polyartistischen Stücke werden auf verschiedenen Festivals und Theatern in Europa aufgeführt, darunter „Impulstanz“ (AT), Ballhaus Naunynstrasse (DE), „Schauspielhaus“ (AT), „Künstlerhaus (AT) “Les Brigittines” [BE], Théâtre la Balsamine” [BE], Centre Wallonie-Bruxelles [FR], Mains-d’Oeuvre [FR] und anderen.
1998 erhält sie den 1. Preis beim „Festival des Jeunes Chorégraphes Contemporains de Pantin“ [FR].
Nach langen Tanz-Jahren beginnt sie auch mehrsprachige Texte zu schreiben, die sich in kurzer Zeit zu einer Dichtungsform entwickeln. Sie beginnt auch zu komponieren für Klavier und Stimme, vertont viele ihrer Gedichte und veröffentlicht ein paar Gedichtsammlungen.
Sie entwickelt sie eine eigene poly-artistische Vorgehensweise, die sie Choreografie einer Klangpoesie nennt, wo all diese Kunstformen und deren Beziehungen zueinander erforscht sind. Sie erschafft polyartistische Stücke, performative Lesungen und kollaboriert mit diversen Künstlerinnen unterschiedlicher Bereiche.
Loulou Omer ist mit dem Exil-Literaturpreis 2021 für Lyrik ausgezeichnet worden.
2023 erhalt sie ein Jahresstipendium von Stadt Wien für ihr Literarisches Projekt Rhapsode.
Loulou Omer- Biografie
Fotos_Goran Rebic
Walter Pobaschnig _ 7.9.2023