Lieber Stefan Schmitzer, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
im moment ist mein arbeitszimmer voll mit zeug, das im laufe des sommers auf den sperrmüll oder per willhaben raus muss – überreste einer ansonsten zur zufriedenheit bereinigten baustelle. an meinem ausweich-arbeitsplatz am küchentisch plage ich mich ein wenig mit der konzentration. weshalb mein tagesablauf derzeit mehr spontan sich aufdrängende haushalts-lästigkeiten und weniger arbeit an texten umfasst, als mir lieb ist. meine tochter schimpft schon scherzhaft im gleichen ton mit mir, den ich verwende, wenn sie, vor ihren hausübungen sitzend, in die luft schaut: „papa, musst schon arbeiten!“

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
die frage ist klugerweise so gestellt, dass in der antwort auch die viel persönlichere information sich offenbart, welchem größtmöglichen „wir alle“ sich der:die befragte zugehörig fühlt bzw. vor welchem „jetzt“ als zeithorizont er:sie sein:ihr dasein fristet. auch, ob eine:r die setzung „besonders wichtig“ als aufforderung zum aufsagen eines möglichst austarierten gesellschaftlichen forderungskatalogs versteht („vergesellschaftlich der produktionsmittel; abschaffung des mototisierten individualverkehrs; lecker bouillabaisse für alle!“) oder als anlaß, die gemeinsamkeit aller menschengeschwister am seelengrunde zu beschwören („besonders wichtig ist, dass wir die kleinen dinge nicht aus den augen verlieren …“), charakterisiert ihn:sie als solche:r oder solche:r autor. will sagen:
ich bin aufgrund des schieren überangebotes an möglichen lesarten und korrspondierenden antworten dieser frage überfordert und weiß gar nicht, was ich sagen soll. außer vielleicht irgendwas mit empathie für den jeweiligen politischen gegner, und dann einem augenzwinkernden verweis auf was popkulturelles (barbenheimer! billie eilish! anson mount als captain pike!!!)
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
es ist eine neuornung der geopolitischen verhältnisse im gange, von der noch nicht klar ist, was rauskommen wird. insbesondere intellektuelle im sogenannten westen scheinen dabei aber den sachverhalt nicht wahrhaben zu wollen, dass sie, dh. wir, nicht gefragt werden: ob zb der koloniale überfall russlands auf ukraine stattfindet – ob und wie sich die ukrainer:innen verteidigen sollen – z. b. auch, wie wir den krisengewinnlern evtl. ihr spiel verderben können – nichts von alledem wurde und wird durch das auftrumpfende „bessere argument“ deutschsprachiger schreibtischtäter:innen entschieden.
ich fürchte, die gesellschaftliche veränderung, der wir grade zusehen, hat etwas mit dem irrelvant-werden (nicht genau dem vergessen-werden, auch nicht dem unrichtig-werden) der großen weltanschaulichen sicherheiten der letzten sieben jahrzehnte zu tun: säkulares, humanistisches, fortschrittliches und universalistisches denken SIND PLÖTZLICH NICHT MEHR SELBSTVERSTÄNDLICH DAS GLEICHE. prinzipieller antiautoritarismus, anti-imperialismus, pazifismus und ein denken, das auf gleichheit hin will, gehen nicht mehr selbstverständlich auseinander hervor. (am anschaulichsten sehen wir das am unschuldsverlust des hippie-milieus, das nach rechts außen übergelaufen ist). wer jetzt gerade ernstlich von „frieden um jeden preis“ spricht, fordert auch, „imperialer raubmord muss mit land belohnt werden“ und macht die welt längerfristig unsicherer; ganz im gegensatz zu dem, was die gleichlautende forderung ca 1980 oder 1990 bedeuten konnte. dass der gehalt der slogans sich ändert, weil sich die wirklichkeit ändert, und der text dabei gleich bleiben kann – diesen konterintuitiven sachverhalt scheint die mehrhheit der bevölkerung noch nicht bemerkt zu haben.
gesellschaftlich entspricht all dem, dass die verbindlichkeiten stifende rolle von theorie, von literatur, überhaupt längerer texte und aller kulturtechniken, die mit ihnen zu tun haben, aus dem zusammenleben schwindet – von den lehrplänen bis zur letzbegründung individueller lebensentwürfe.
die aufgabe von kunst und literatur – gedacht als: meine aufgabe – ist hier, zeug zu produzieren, dass trotzdem noch leuten was gibt (dh. „interessant“, lustig, überrasdchend, unterhaltsam … ist, nach mnaßgabe dessen, worauf leute tatsächlich lust haben) und das dabei aber register präsent hält, auf deren anderweitiges fortdauern sonst kein verlass ist: so schreiben, dass man den texten anmerkt, auf welchen diskursen und wissenssystemen sie fußen.
Was liest Du derzeit?
durcheinander lese ich vor allem. zum einen den langen kolportagetext von david foster wallace über david lynch; dann die „cornelius chronicles“ von michael moorcock (in einem verschmuddelten originalpaperback); zum rezensieren für poesiegalerie.at gedichtbände von katharina ferner und reinhard lechner (längst überfällig, ich weiß eh …); und die beiträge, die wir für‘s nächste perspektive-heft bekommen haben.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
erstens die rede vladimir putins vom 16. 03. 2022, in der folgende stelle vorkommt (übersetzung nach reuters):
„Any people, and especially the Russian people, will always be able to distinguish the true patriots from the scum and the traitors, and just to spit them out like a midge that accidentally flew into their mouths. (…) I am convinced that this natural and necessary self-cleansing of society will only strengthen our country, our solidarity, cohesion and readiness to meet any challenge.“
und zweitens, in der zusammenschau damit, das folgende von maya angelou:
„When people show you who they are, believe them the first time.“
Vielen Dank für das Interview lieber Stefan, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
ich sage auch danke!
5 Fragen an Künstler*innen:
Stefan Schmitzer, Schriftsteller
Zur Person_Stefan Schmitzer, *1979, lebt als Autor in Graz und ist Mitherausgeber und Redakteur von perspektive – hefte für zeitgenösische literatur … Zuletzt erschienen: „boring river notes.“ (Graz: Keiper [Reihe Keiper Lyrik #19]); „Zweitausendachtzehn. Vier Moritaten“ (2019); „okzident express. falsch erinnerte lieder“ (2019); „liste der künstlichen objekte auf dem mond. gedicht“ (2021); „Wild On. Posse“ (2022)

Stefan Schmitzer. Wild on. Posse. fabrik.transit Verlag 2022
Wild On! – Flamingos · Aliens · Feuerwehr“
Der selbe Stoff, zweimal in einem Band, einmal gefasst als „Posse mit Musik“ für Laientheater und einmal als Novelle: Eine absurde Geschichte über Aliens vom Planeten Flamingonia, gestrandet im Dorf Wildon südlich von Graz. Sie allein sind am Weltklimawandel schuld, und am Aufstieg der FPÖ, und überhaupt an allem. Nach inzwischen siebenhundert Jahren sind sie sich uneins: Das Ober-Alien will die Stadt Graz sprengen, damit sein Raumschiff wieder starten und die Erde endlich verlassen kann; seine Unterlinge hingegen hintertreiben diese Bemühungen und wollen statt dessen auf der Erde bleiben, was freilich noch einmal deutlich mehr Klimaerwärmung mit sich brächte. Es ist an einem deutschen Urlauberpaar, das sich ins geheime Hauptquartier der Aliens verirrt hat, das Zünglein an der Waage in diesem Machtkampf zu spielen: Gegen die Polkappen – oder gegen die Rettung der Landeshauptstadt?
12,4 x 18,9 cm, Softcover
108 Seiten, 28 s/w Abbildungen
Erschienen im Juni 2022
ISBN 978-3-903267-24-4
€ 15,00
https://www.fabriktransit.net/stefan-schmitzer-wild-on.html
Foto_privat
Walter Pobaschnig _ 6.8.2023