Liebe Nasima Razizadeh wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Ein guter Zufall, gerade jetzt gefragt zu werden, und ich befürchte andererseits schon vorab, die eigentliche Frage in der Frage zu verfehlen. In der Gegenwart, hier, jetzt, geht der Tag zwar zügigen Schrittes, läuft jedoch, endlich einmal wieder, weder bloß ab noch davon, und so hefte ich mich ihm ohne nachzudenken an die Fersen und allerlei huscht vorüber und umhüllt dennoch jeweils so gänzlich, dass man meinen könnte, es stemme sich Einer irgendwo gegen den – den! – Minutenzeiger und die Zeit müsse sich also aufstauen, sodass die Augenblicke von Stunde zu Stunde eine höhere Konzentration an aufgestauter Zeit enthalten.
Wie sieht das aus? Grelles kreisendes gefiedertes Gekreische von schräg oben (und dabei bin ich schon hoch oben im Dachgeschoss) und gedämpftes Licht morgens, wenn der Vorhang noch zugezogen ist, drei Schritte hinüber zum Wasserkocher tappen, kleine rasche Schlucke eigentlich noch zu heißen Kaffees, Melange aus Noch-Müdigkeit und Schon-Ungeduld, Buch im Bett, Notizheft neben dem Kopfkissen, Notizheft in der Hand, Buch in der Hand, Augen beim Wiederzuklappen erwischen, zwei oder drei Tassen Kaffee später: ans Meer gehen, augenblicklich ruhiger, beinah als hätte zuvor die Sorge bestanden, jemand könne es zwischenzeitlich weggenommen haben, gleißendes sanftes Licht unten am Wasser, Stille, ab und zu gerufene Worte in fremder Sprache, kaum Konturen, fast nur Flächen, durch die Gezeiten abwechselnd breite lange Flächen, blasse Farben, Rhythmen, Spuren, Sprache, das andere Buch mit Sand zwischen den Seiten, lichttrunken, sprachtrunken, Notizheft, lesen, schreiben, kritzeln, korrespondieren, aufsehen, durchstreichen, weiterlesen, anstreichen, emphatisch einkringeln, Tinte, Kugelschreiber, Bleistift, Daumen, weitergehen, im Kopf formulieren, Rätsel aufgebende Objekte am Strand betrachten, über den Himmel flackerndes auf der Wasseroberfläche schimmerndes beinahe kicherndes Licht, Vergessen des Vorformulierten, an einen Fels lehnen, an den Sand schmiegen, zeugenlos, Sandkörner auf der Haut und Kleidung wie unzählige winzige blinde Passagiere dulden, ins Meer gehen, im Meer taumeln, im Meer schwimmen, Sirenen hören aber nicht gehorchen, das Licht nun zu einer kleinen runden weißen Scheibe verdichtet, zu frieren beginnen, die Uhrzeit nicht kennen, an den Ein oder Anderen denken, zerzaust und fröstelnd „nach Hause“ stapfen abends, von Katzen am Straßenrand angestarrt werden, freundlich zurückstarren, Blickkontakt sonst meist meiden, Stille, Kirschbier hin und wieder, Pfirsiche aus dem Carrefour Express Supermarkt an der Rue de l‘Impératrice, Fleur de Sel, Sprache, Halbdunkel, Musik, rotes Blinken des kleinen neuerdings immerzu Akkunotstand simulierenden Lautsprechers, Minztee, ruhiges schwarzes Tropfen draußen, es regnet verlässlich jede Nacht, Sprache, vergessener lauwarmer Minztee, Dunkel, gute Erschöpfung. Alles ist einfach. Einfacher. Was nicht einfach ist, das tägliche Sich-Verlaufen, entzieht sich hier, wie sonst, dem Tagesablauf. Das zufällig getroffene Zeitfenster, aus dem heraus ich diesen präferierten, leider aber atypischen Tagesablauf beschreibe, ist, gemessen an der Festung eines ganzen Jahres, kaum mehr als eine Scharte, doch während ich nun schreibend hindurchblinzle durch meine schmale opake Sommer-Scharte, löst sich die restliche Jahresfestung auf und ganz kurz ist alles Fenster, ohne Glas.
Es ist Ende Juli. Ich bin in Berck sur Mer.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Von Zeit zu Zeit allein wegzufahren.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Ich könnte als Leserin, Betrachterin, Beobachterin antworten, allerdings bin ich mir da keines anderen Aufbruchs und Beginns bewusst als des Aufbruchs und des Beginns, die Literatur und Kunst immer waren und immer aufs Neue auf die alte Weise sind.
Ich antworte also als Schreibende. Das Geschriebene ist eine Entscheidung für das Wort an sich und für die jeweils konkreten Worte, ist, allen vorangehenden Unsicherheiten zum Trotz, letztlich: Entschiedenheit. Ich erlebe hierin statt eines Aufbruchs eine nicht enden wollende Kaskade an Einbrüchen zurzeit, wohlwissend, dass dieses zurzeit zu allen Zeiten genutzt worden ist und genutzt werden wird, und mein Erleben durch intentionale Ignoranz sicherlich übersäht ist von blinden Flecken. Die Literatur scheint mir aber hier ein Exempel statuieren zu können, zu müssen, indem sie sich für die Wortwahl, den Wortwillen, das Wortwagnis, für Gewähltheit und Gewandtheit, mal für Zugewandtheit, mal für Abwendung, entscheidet. Das Wort ist kostbar. Das Wort, wie so vieles andere Verkannt-Kostbare, will, scheint mir, viel häufiger, und sei es bloß spielerisch, auf die Goldwaage gelegt werden.
Literatur muss nicht nur geschrieben, sondern auch gedruckt werden. Hierbei darf doch der Betrieb nicht vergessen, dass er nicht nur die Verantwortung trägt, den Nachttisch mit neuer (guter) Lektüre zu beliefern, sondern auch dem Schreibtisch die abgeschlossenen (guten) Manuskripte abzunehmen und also Raum zu schaffen für neue Texte. Das Herzstück dieses Kreislaufs bleibt aber der phantasierende, Worte wählende, sie verwebende, und ihnen, indes, in seiner Wildnis, auf eigene Kosten, Wohnraum gewährende Kopf.
Und Literatur muss nicht nur geschrieben und gedruckt, sondern auch gelesen werden, denn das Schreiben nährt sich davon, vom Gelesenwerden, wenn auch nur behutsam, wie in Spurenelementen. Dem Leser ist der Autor also ohnehin und auf alle Zeiten verbunden, zärtlich verbunden. Vielleicht sollte, dennoch und deshalb, der Graben wieder größer werden zwischen der Seite, auf der das Schreiben stattfindet, und der, auf der das Lesen stattfindet. Das Stimmengewirr ist allzu betäubend manchmal, und am wenigsten noch für die Ohren. Und gerad durch Rückzug, Distanz, Trennung würde womöglich der ungeheure Reiz von Begegnungen, Berührungen, Irritationen und Gesprächen anlässlich des Texts, des geschriebenen und des gelesenen, im Leben wieder spürbarer. Es hat schließlich das Schreiben, zumindest nicht allen Lesarten gegenüber, keine Entenfedern, die Erfahrung perlt nicht gänzlich an ihm ab. Das ergibt einen Anspruch, vor dem sich der Leser nicht verstecken kann. Primär aber ist es ein tröstlicher Gedanke, denn die Sprache kann sich doch auch manchmal ganz unantastbar geben, als sei sie fernes, fremdes Mondgestein in uns. Es gibt nichts Wesentlicheres, scheint mir, als dass keine Müdigkeit vorgetäuscht und dieses tropfnasse Mondgestein immer wieder aufs Neue aufgebrochen und behutsam ausgegossen wird.
Was liest Du derzeit?
Hölderlins Hyperion – weil es dieses spezifische, intensive und sanfte, Licht hier braucht, ein wunderschön unverhüllt bedürftiges Buch.
Und zum zweieinhalbsten Mal, aber, endlich, zum ersten Mal in der Übersetzung von Swetlana Geier, Strafe und Verbrechen, und zum ersten Mal, und nur deshalb erwähne ich es hier, habe ich die Mordszene unter freiem Himmel gelesen, am Strandrand, und fing in der Tat an, mich selbst schuldig und leicht paranoid zu fühlen, und hatte gleichzeitig vorübergehend Schwierigkeiten Raskolnikow nicht mit Meursault zu verwechseln, weil das fiktive Sankt Petersburg, die vierte Etage, die Schlaufe im Mantel, die blutige Socke und der reale Hochsommer, das Meer, die Sonne, die Schatten sich kurzzeitig verwirrend vermischten beim Lesen. Eine Empfehlung – oder Warnung!
Derzeit im weiteren Sinne:
Letztes Jahr zur genau gleichen Zeit am genau gleichen Ort: Celans Briefe an Diet Kloos-Barendregt – nur erwähnt, weil die Erwähnung so lohnenswert erscheint.
Kurz vor der Abreise: dekarnation von Eva Maria Leuenberger, draußen, nachmittags, und Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft von Antonin Artaud, drinnen, abends.
Bald: den neuen Roman von Patrick Modiano, Unterwegs nach Chevreuse, der, noch nicht aufgeschlagen, doch immer griffbereit liegt, auch jetzt. Man weiß ja bei Modiano schon im Vorhinein, was man lesen wird, und liest es gerade daher so ungemein gern.
Und, immer wieder mal, T.S. Eliot, parallel zu der Zeit.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„And indeed there will be time” (T.S. Eliot)
Vielen Dank für das Interview liebe Nasima Sophia, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Nasima Sophia Razizadeh, Schriftstellerin
Zur Person_ Nasima Sophia Razizadeh, geboren 1991 in Frankfurt a.M., studierte Biologie und war seither in Forschung und Lehre tätig, um die Arbeit am Eckschreibtisch, die zentral und Enklave zugleich ist, zu schirmen. Nennenswerte Lebensorte sind bzw. waren Köln, Heidelberg, Wien und Edinburgh. Ihre Texte wurden durch die Literaturhäuser Salzburg (H.C.-Artmann-Stipendium), Stuttgart und Wuppertal ausgezeichnet und waren u.a. in den Zeitschriften poet und mosaik zu lesen. Voraussichtlich im Herbst dieses Jahres erscheint bei Matthes & Seitz Berlin/ Rohstoff ihr Debüt Sprache und Meer.
https://www.nasimarazizadeh.de/
Foto_privat
27.7.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.