Liebe Sanja Abramović, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Im Moment verschwende ich meine Tage darauf, darüber nachzudenken, was es ist, was ich machen will bzw. soll und was davon das Wichtigere ist.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Für uns alle ist gerade besonders wichtig, nicht in die zahlreichen Fallen zu tappen, die uns immer wieder klarmachen wollen, es gehe nur um uns und das Unsrige. Wir werden ruhiggestellt durch Technik und Konsum, verlieren die Gabe zu beobachten, aufmerksam zu sein, wahrzunehmen. Wir müssen öfter die Perspektive wechseln, sehen, was um uns passiert, die Menschen wahrnehmen, die Umwelt.
Ich wundere mich immer wieder darüber, welche Wirkung abgedroschene Phrasen, Parolen und Worthülsen haben können. Dass das als rhetorische Strategie immer noch oder wieder funktioniert – in der Politik, in den Medien. Wir verflachen, werden egoistischer, es geht in vielen Bereichen so viel mehr um Oberfläche als um Substanz. Wir brauchen dringend eine alternative Sichtweise.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Als die Matura reformiert wurde, legte man sich im Fach Deutsch auf bestimmte Textsorten fest. Die wenigsten davon setzen eine Beschäftigung mit Literatur voraus beziehungsweise erfordern Kreativität oder Empathie. Es klang für uns Lehrpersonen plausibel, dass man sensible Themen in Prüfungssituationen meiden solle, da man ja nicht wissen könne, wer inwiefern gerade von diesen Themen betroffen sei. Da ja solche Themen nicht Prüfungsstoff waren, wurden sie aber auch weniger relevant und leider immer seltener behandelt. Erst jetzt wird uns bewusst, wie weitreichend die negativen Auswirkungen dieser Reformen sind.
Man mag vielleicht vieles wissen, aber durch Literatur lernt man zu fühlen, sie fordert heraus und tut manchmal auch weh. Empathie und Verständnis für etwas Unbekanntes, Neues kann uns Kunst vermitteln, manches lässt sich nicht allein durch Fakten und das Herabbrechen auf logische Strukturen erfassen.
Literatur und Kunst sind es, die uns nicht vergessen lassen, was uns wirklich ausmacht, dass da etwas ist, was uns bewegen kann, ohne dass wir es erklären können oder müssen. Die Erinnerung an etwas Vertrautes, uns Bekanntes und ein unbestimmtes Versprechen zugleich. Sie finden in uns Resonanz, bringen etwas zum Klingen, was in uns ist, ganz egal, wo wir stehen, wer wir sind.
Was liest Du derzeit?
Wisława Szymborska: Hundert Freuden
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Das Leben, sei es auch lang, wird immer kurz sein.
Zu kurz, um ihm etwas hinzuzufügen.“
(aus dem oben genannten Gedichtband)
Vielen Dank für das Interview liebe Sanja, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Sanja Abramović, Schriftstellerin
Zur Person_Sanja Abramović wurde 1982 in Karlovac/Kroatien geboren. Im Alter von neun Jahren kam sie nach Österreich. Sie studierte Germanistik und Slawistik in Wien und lebt in Eisenstadt, wo sie am Gymnasium Kurzwiese Deutsch und Kroatisch unterrichtet.
2003 wird Sanja Abramović beim Literaturpreis „Schreiben zwischen den Kulturen“ der Edition Exil ausgezeichnet, 2016 mit dem zweiten Platz beim Lyrikpreis der Energie Burgenland, 2018 wird ihr der Literaturpreis des Landes Burgenland zuerkannt.
Sanja Abramović schreibt Kurzprosa und Lyrik, veröffentlicht in Zeitschriften und Anthologien – zuletzt bei lex liszt 12 „Junge Literatur Burgenland: Volume 4.“
Foto_Hans Wetzelsdorfer
18.7.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.