Lieber Philipp Brotz, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Das kommt darauf an, was im Mittelpunkt steht: der Brotberuf oder die Schriftstellerei. Brotberuftage sind vielfältiger, weniger planbar, ich sammle die Anliegen anderer wie ein Trichter.
Schriftstellertage sind strukturierter. Kreativität braucht Struktur bei mir. Feste Uhrzeiten, umzäunte Pausen, gedankliches Gegengewicht. Schriftstellertage beginnen am Schreibtisch und dauern nie länger als bis 18 Uhr.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Mir scheint, wir leben in einer Zeit der Spaltung. In der Politikwissenschaft sprach man insbesondere in den siebziger und achtziger Jahren von Cleavages, also von Klüften zwischen gesellschaftlichen Lagern.
Bei Platon heißt es: „Sei gütig, denn alle Menschen, denen du begegnest, kämpfen einen schweren Kampf.“ Betrachte ich die gesellschaftlichen Lager, scheint mir, wir lebten in einer post-platonischen Zeit. Und darum meine ich, es ist wichtig, dass wir zu der Güte zurückfinden, von der Platon spricht. Versöhnen statt Spalten. Verstehen statt Verurteilen. Verzeihen statt Verübeln.
Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater/Schauspiel, der Kunst an sich zu?
Diskurse haben sich in jeder Epoche aus der Kunst gespeist. Die Kunst ist ein Ort der Utopien, ein Ort, an dem Neues gedacht werden kann.
Was liest Du derzeit?
Wislawa Szymborska, weil ihre Lyrik die ekstatische Hybris unserer Jahre angenehm rückverortet.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Bei Tolstoi heißt es: „Vergib mir nicht nach meinem Verdienst, sondern nach deiner Gnade.“ Eine wunderbare Ergänzung zum Platon-Zitat weiter oben.
Vielen Dank für das Interview lieber Philipp, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Philipp Brotz, Schriftsteller
Zur Person_Philipp Brotz, geboren 1982 in Calw/Schwarzwald. Wehrersatzdienst in New York, USA, dann Studium der Germanistik und Romanistik in Berlin, anschließend der Politik- und Wirtschaftswissenschaft in Freiburg im Breisgau. Heute Gymnasiallehrer in Freiburg und Moderator beim Werkstattgespräch des dortigen Literaturhauses.
Für seine Prosa mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Schwäbischen Literaturpreis, dem Jurypreis beim Wiener Book-Slam und dem Nora-Pfeffer-Literaturpreis. Stipendium des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg für den Roman „Termitenkönigin“.
Sein aktueller Roman „Die Ungleichzeitigen“ erschien im März 2023 im 8 grad Verlag, Freiburg.

Hagen, Anfang dreißig und ewiger Student, ist in Berlin gescheitert und mit den Eltern verkracht. Als diese tödlich verunglücken, kehrt er in sein Schwarzwälder Heimatdorf zurück, um an sein früheres Leben anzuknüpfen. Doch bestürzt stellt er fest, dass nichts beim Alten ist: Im Dorf hat man ihn vergessen, der Wald seiner Kindheit soll Flüchtlingsunterkünften weichen. Hagen beginnt einen aussichtslosen Kampf um das Verlorene und gegen das Fremde, bis er in der Jesidin Adana auf eine Frau trifft, die genau wie er entwurzelt zu sein scheint.
»Dass ein Vogel den Baumstamm kopfüber hinablaufen konnte, davon hatte sie noch nie gehört. Das wolle sie auch können, flüsterte sie. Alle Wege rückwärtsgehen. Rückwärts in der Zeit.«
Roman, HC
320 Seiten
12 × 20 cm
Ladenpreis: 24 €
ISBN: 978-3-910228-12-2
ISBN EPUB: 978-3-910228-24-5
Erscheinungstermin: 01.03.23
Die Ungleichzeitigen
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Walter Pobaschnig _ 13.7.2023