Liebe Mira Rot, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Ich stehe zwischen 6:00 und 7:30 auf, öffne das Fenster zum Garten, höre die Vögel zwitschern. Seit einer Woche auch den schrillen, durchdringenden Gesang der Mauersegler, die von ihrem Winterquartier in Afrika hergeflogen sind. Wenn sie ihre Morgen- und Abend- Formationen über den Dächern des großen Hofgartens fliegen; Vorboten des Sommers.

Frischluft, Stille, das laute, kreisförmige Geräusch beim Ansägen einer vereinzelten Nuss durch ein Eichhörnchen lässt mich aufhorchen. Ganz abrupt penetranter Baulärm. Die Alltags-Idylle, daran bin ich berufsbedingt gewöhnt. Es nervt. Die Menschen da draußen, außerhalb meines Ateliers, arbeiten. Das hebt auch meine „Work Attitude“.
Bei einem doppelten Espresso verfolge ich Tagesnachrichten, gehe Emails durch, lese Texte vom Vorabend, noch klar im Kopf und unverbraucht. Recherchiere im Internet.

Kochen gehört zu meiner neuen Lieblingsbeschäftigung. Oft kreiere ich ein neues aufregendes Gericht. Nach dem Food Shopping, regelmäßigen Terminen außer Haus und einer 1- bis 2-stündigen Stadtwanderung mit Foto Sessions koche ich. Artischocken mit Sauce Béarnaise, Spargel in Variationen. Ein Fischfilet mit Gemüse Couscous und gebratenen Auberginen.


©MR_Original Diapositiv Je_ Antik-Portraitfoto, Venice (color)
Zur Ruhe gekommen, setze ich mich an den ehemaligen Zeichentisch, einem Türblatt auf Böcken, und schreibe. Ich fange meist erst an, wenn alle Todos des Tages erledigt sind. Damit ich keine Ablenkung mehr habe.
Mit Blick auf den Nussbaum, auf das niedrigere Haus gegenüber, die alten weißen Schornsteine und auf den sich darüber aufwölbenden Wolkenhimmel. Es ist Nachmittag geworden. Wenn es warm genug ist bei offenem Fenster. Gegenüber leuchtet das alte, rote Ziegeldach, das im Sonnenlicht alle Färbungen annimmt. Mein römischer Ausblick, so nenne ich ihn insgeheim.
Dann bin ich Wien entrückt, südliche Gefühle stellen sich ein. Bald werden der Nussbaum und die Blumen-Esche voll austreiben, die hellen, fast weißen, endständig gefiederten Rispen der Esche duften ab Ende des Monats ungemein intensiv und hüllen das Atelier vollständig ein. Die Bäume im L-förmigen Innenhof überragen die Häuser und kühlen im Sommer, ein Riesen Vorteil für eine Stadtwohnung.
Momentan schreibe ich an einer „Urban Itinerary“. Über das Nachfühlen der Pandemie, über die neu dazugewonnene Freiheit nach der beendeten freiberuflichen Tätigkeit im Management. Dabei dienen mir Fotos aus dem urbanen Umfeld als Footage, vor einiger Zeit auch in der besonderen Atmosphäre der menschenleeren Innenstadt. Ich lebe weiterhin in einer „Home Attitude“, einem Rückzug, der auf vielen Ebenen stattfindet. Eine Askese ohne viele Außenkontakte. Angst vor Begegnungen schwang früher mit. Reste davon sind noch vorhanden. Ich bin immer noch relativ scheu, ganz entgegen meinem extravertierten Wesen. Da ich viel Zeit hatte, suchte ich mir neue Forschungsgebiete. Die Introspektion befreite. Ich schöpfte aus der Fülle an Informationen, um die Isolation und die damit verbundene Stummheit zu überwinden.


Eine sinnliche Exploration mit eigenem Pacing. Ein neues Wort dieser Zäsur-Zeit. Ich wanderte und wandere weiterhin … gegen die manchmal auftretende Abgeschlagenheit an. Bei jeder Witterung, meist mit Walking Stöcken, stundenlang, immer wieder durch die Stadt bis zu ihren Rändern. Die Vitalität kehrt nach und nach in Wellenbewegungen zurück. Mit Rückschlägen, aber immerhin. Auch der Geruchsinn, den ich täglich an allen möglichen Blumen und Gewürzen trainiere, kann ich sukzessive hervor kitzeln. Ob es so riecht wie früher, ist ungewiss, ich folge meiner Nase.

Die frühere berufliche Tätigkeit ist nun in ständiger Transfusion / Infusion. Das (archi)tektonische Wissen ist immanent. Es gibt mir die Grundstruktur für neue Betätigungsfelder. Axiome des Berufes gelten nicht mehr, ich versuche es lockerer anzugehen. Aber auch die neue Beschäftigung schreit nach einer stringenten Umsetzung.

Ich schreibe an meinem zweiten längeren Text, es sind schon mehr als 150 Seiten… daneben Kurzgeschichten und Essays je nach Aufmerksamkeitsspanne. Manchmal auch Gedichte.

Flexibel bleiben, je nach Wachheitsgrad. Das unmittelbare Erleben des urbanen Experimentierfeldes ist in meinen Fotoserien festgehalten. Mit sezierendem Blick und der neuen Nase erfasse ich das alltägliche Leben, die Menschen, ihre Kinder, ihre Haustiere, die Vögel, die Fauna, den Berufsverkehr, die Gerüche, den Lärm und die Hektik der Großstadt. Die SchülerInnen- und Jugendgruppen in den städtischen Parks bei ihren Turnstunden, die Schlendernden, die Müßiggänger, die Kranken, die Sportler; Einsame Frauen und Männer auf Parkbänken, junge, alte, die Tauben füttern oder in der großen Korbschaukel – mit einem Polster untergeschoben – laut auflachen, während Trauben von Kindergarten Kindern auf ihren „Turn“ warten.
Die städtischen Parks sind meine Außenstelle. Dort verbringe ich Stunden im Halbschatten, arbeite – meist beobachte ich und lasse die Gedanken schweifen. Auch andere haben dort Stellung bezogen, arbeiten hauptsächlich im Park. Man trifft sich, grüßt sich. Hebt die Hand, nickt kurz oder führt Smalltalk. Am liebsten sehe ich den Kindern beim Toben, Lärmen und Spielen zu.

Mit abstrakten Aquarellen verarbeite ich zu Hause dann die Eindrücke bildhaft, mache mir Gedanken und Skizzen zu einer größeren neuen Arbeit, einer Skulptur. Mein nächstes Projekt.
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Das vermag ich momentan besser für mich zu definieren, da ist es besonders wichtig, mich in der neuen Situation frei und kreativ bewegen zu können. Ich möchte nach vorne blicken.
Für alle gesprochen geht es sicher um ein achtsameres und nachhaltigeres Miteinander. Um Großzügigkeit und Nachsicht mit allen.
Der Blick aller richtet sich auf eine lebenswertere und umweltfreundlichere Zukunft. Es ist die Aufgabe der Stakeholder in Politik, Wirtschaft und sozialen Institutionen, die Weichenstellungen für die nächsten Generationen vorzubereiten. Armutsbekämpfung und bessere Chancen für einen guten Jobeinstieg. Angebote für ältere ArbeitnehmerInnen, nicht nur Lippenbekenntnisse.
Die aktuelle Zeitqualität fordert uns als Gesellschaft, jede(n) einzelne(n) von uns. Für manche ist es einfach weitergegangen wie vor der Pandemie, es gibt auch Krisengewinner. Für die meisten war es ein starker Einschnitt, besonders im urbanen Umfeld. Eine kollektive Schwächung und Verwundung ist spürbar, vieles kommt nicht mehr geschmeidig daher. Sprödheit, wo ich hinschaue.
Diese Zäsur bewirkte zumindest bei mir einen Reinigungsprozess – damit meine ich nicht das obligatorische Putzen der Wohnung – sondern eine abstraktere Betrachtung meiner direkten Lebensumstände. Aus der Vogelperspektive. Durch den Perspektivenwechsel schaffte ich Distanz zum realen, stressigen Arbeitsleben. In der Metamorphose entwickelte ich ein geschärftes künstlerisches und gesellschaftspolitisches Bewusstsein.
Nach einer Phase der Unruhe folgte Stille, absolute Ruhe, fast Langeweile. Ich war eine Zeitlang wie in Schockstarre. Das habe ich „Step by Step“ überwunden.
Ab März 2020 habe ich mich auf Social Media zu vernetzen begonnen; Architekturvorträge und Lesungen von AutorInnen online mit verfolgt, politische Schwerpunkte in Bezug auf Nachhaltigkeit und Zukunftsgestaltung studiert. Nun fließt es in meine neuen Werke ein; Der Wissensdurst erfüllt mich mit Freude und sorgt für einen kreativen Booster-Effekt.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Kunst an sich zu?
Kunst ist ein Generator. Kunst ist elementar, es geht immer um das unmittelbare Erleben, Erfühlen. Eher als um das Einordnen und Verstehen.
Wesentlich ist auch die gesellschaftspolitische Dimension, wo Kunst Ventile öffnet und den Blick zu schärft.
Für mich ist Kunst lebensnotwendig.
Was liest Du derzeit?
Yoko Ogawa, Schwimmbad im Regen
Friederike Mayröcker, da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete
Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft
Byung-Chul Han, Psychopolitik Neoliberalismus und die neuen Machttechniken
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„In diesem Frühling war es oft bewölkt. Fast jeden Tag schien es, als sei der Himmel wie von einer kalten Milchglasscheibe bedeckt. …Nur schwer konnte die Stadt sich vom Nachklang des Winters befreien.
Yoko Ogawa, Schwimmbad im Regen
„Quantified Self
Der Glaube an die Vermessbar- und Quantifizierbarkeit des Lebens beherrscht das digitale Zeitalter insgesamt. Auch „Quantified Self“ huldigt diesem Glauben. Der Körper wird mit Sensoren versehen, die automatisch Daten erfassen. Gemessen werden Körpertemperatur, Blutzuckerwerte, Kalorienzufuhr, Kalorienverbrauch, Bewegungsprofile oder Fettanteile des Körpers. Bei der Meditation werden Herzschläge aufgezeichnet. Selbst bei der Entspannung zählt Leistung und Effizienz. …Das Selbst wird bis zur Sinnleere in Daten zerlegt.“
Byung-Chul Han, Psychopolitik
Neoliberalismus und die neuen Machtechniken
Vielen Dank für das Interview liebe Mira Rot, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

1b_©MR_Original Diapositiv Je_ Antik-Portraitfoto, Venice (sw)
5 Fragen an Künstler*innen:
Mira Rot, Künstlerin
Zur Person_ Mira Rot, wohnhaft in Wien. Künstlerin _ Texte, Fotografie, Philosophie
Work: Urban Itineraries – Stadtwanderungen
Fotocredits:
Portraits von Mira Rot
1a_ ©MR_Original Diapositiv Je, Titel: Antik-Portraitfoto, Venice (color)
1b_ ©MR_Original Diapositiv Je, Titel: Antik-Portraitfoto, Venice (sw)
2_ ©MR_Original Diapositiv Je, Titel: Antikfoto, Urban Walk in New York (color)
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19.5.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.