„Das Potenzial von Kunst kann darin liegen, unser Leben, unsere Gesellschaft und das System anders zu denken“ Günther Oberhollenzer, künstlerischer Leiter Künstlerhaus Wien _ 19.6.2023

Lieber Günther Oberhollenzer, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Das ist sehr unterschiedlich, da mein Beruf als Künstlerischer Leiter im Künstlerhaus sowie als Kurator sehr abwechslungsreich ist. Im Idealfall besuche ich einen Künstler, eine Künstlerin im Atelier (es ist eine der schönsten Aufgaben in meinem Beruf, die Menschen hinter den Kunstwerken kennenzulernen und in ihre kreative Schaffensstätte einzutauchen). Ich schreibe an Kunsttexten und mache mir inhaltliche Überlegungen zu Ausstellungsprojekten, führe im Künstlerhaus mit meinen Kolleg*innen Gespräche zu organisatorischen Fragen. Ich beantworte E-Mails (ich bekomme derzeit sehr viele Anfragen), und vielleicht eröffne ich dann noch am Abend in einer Galerie oder eine Kunstraum eine Ausstellung und spreche über die dort zu sehenden Arbeiten…

Günther Oberhollenzer, Kunsthistoriker, Kurator und Autor _
seit Oktober 2022 künstlerische Leitung des Künstlerhauses in Wien

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Wichtig ist für mich ein persönliches Engagement und eine unbedingte Leidenschaft in allem, was wir tun und dabei auch der Mut, relevante gesellschaftliche Fragestellungen und Konflikte anzugehen, sie zu diskutieren und nach Lösungen zu suchen. Damit gepaart sollte allerdings – und das mag vielleicht wie ein Widerspruch klingen – eine gewisse Gelassenheit und eine gesunde, kritische Selbstreflexion sein. Ich wünsche mir wieder ein emphatisches Miteinander, dass wir uns mehr zuhören, anstatt unsere Meinung hinauszuschreien und zu glauben, die absolute Wahrheit zu kennen.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Kunst an sich zu?

Siehe oben. Das Potenzial von Kunst kann darin liegen, unser Leben, unsere Gesellschaft und das System anders zu denken. Ein interessanter Gedanke dazu stammt vom Kulturtheoretiker Niklas Luhmann. Nach seiner Systemtheorie soll Kunst das „Unbeobachtbare beobachtbar machen“, sie erzeuge eine „zweite Realität“, die es ermögliche, die Realität aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Kunst leistet Luhmann zufolge damit niemals nur einen Beitrag zur Beobachtung oder Repräsentation der Welt, sondern befördert vielmehr eine Haltung von Distanz und Reflexivität.

Grundsätzlich ist die Kunst frei und muss deshalb nichts, auch keine bestimmte Rolle einnehmen – sie kann, wenn gewollt, aber vieles sein, so etwa auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen, sie reflektieren und den Finger in die Wunde legen, oder sie kann sogar den Anspruch erheben, die Welt ein klein wenig besser zu machen. Kunstwerke stehen dabei stets in einem Spannungsverhältnis zwischen selbstreferenzieller Geste und dem Anspruch auf gesellschaftliche Relevanz.

Was liest Du derzeit?

Annika Domainko (Hg.), Canceln, ein notwendiger Streit

Hanser Verlag, München 2023

Norbert Marion Kröll, Die Kuratorin, Roman

Kremayr & Scheriau Verlag, Wien

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Aus meinem Buch „Von der Liebe zur Kunst“, Limbus Verlag, Innsbruck 2022:

„Ich lebe für eine Kunst, die alle Sinne anspricht, ohne deshalb oberflächlich zu sein. Für eine Kunst, die mich berührt, die meinen Geist und Intellekt herausfordert. Für eine Kunst, deren Wert nicht vom Markt bestimmt wird. Für eine Kunst, hinter der außergewöhnlich beeindruckende Menschen stehen, die kennenzulernen sich lohnt. Für eine Kunst, die eine moralische Aufgabe übernehmen kann. Für eine Kunst, die dabei helfen kann, ein besserer Mensch zu werden. Für eine Kunst, die das Leben und die Gesellschaft verändern kann. (Diesen vielleicht naiven Idealismus lasse ich mir nicht nehmen!) Für eine Kunst, die Glück spendet. Für eine Kunst, die dem Leben Tiefe und Schönheit verleiht. Für eine Kunst, die mein Leben so sehr bereichert und es so lebenswert macht, dass ich diese Erfahrung mit anderen Menschen teilen möchte. In der Hoffnung, dass meine Freude, meine Leidenschaft, meine Liebe für die Kunst auf Sie überspringen mögen.“

Vielen Dank für das Interview lieber Günther, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Kunstprojekte wie persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an Künstler*innen:

Günther Oberhollenzer, Kunsthistoriker, Kurator und Autor _
seit Oktober 2022 künstlerische Leitung des Künstlerhauses in Wien

Zur Person_Günther Oberhollenzer, geboren 1976 in Brixen, ist Kunsthistoriker, Kurator und Autor und lebt und arbeitet in Wien. Er studierte Geschichte und Kunstgeschichte in Innsbruck und Venedig sowie Kulturmanagement in Wien. Von 2006 bis 2015 war er Kurator am Essl Museum in Klosterneuburg bei Wien, davor arbeitete er am Referat für Bildende Kunst in der Kulturabteilung der Stadt Wien. Von 2016 bis 2022 war er leitender Kurator der Landesgalerie Niederösterreich in Krems und von 2014 bis 2018 Mitglied des Südtiroler Kulturbeirates. Seit 2014 ist er Lehrbeauftragter am Institut für Kulturmanagement und Gender Studies (IKM) an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Mit Oktober 2022 übernahm er die Künstlerische Leitung des Künstlerhauses in Wien.

https://www.k-haus.at/

Im Herbst 2022 erschien in dritter erweiterter und aktualisierter Auflage sein Buch „Von der Liebe zur Kunst“ (Limbus Verlag, Innsbruck).

Günther Oberhollenzer, Von der Liebe zur Kunst –
Warum es unser Leben so bereichert, sich auf sie einzulassen

Essay

Überarbeitete und erweiterte Neuauflage inkl. zwei zusätzlicher Kapitel
Limbus Preziosen, Innsbruck 2022
Preis: 18,– € (A/D)
Gebunden mit Lesebändchen. 200 Seiten
ISBN 978-3-99039-224-9

http://www.liebezurkunst.com

Foto_Tim Cavadini

15.6.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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