„Streaming auf Biegen und Brechen kann kein Ersatz und keine Ablöse sein“ Christian Tschinkel, Komponist _ Wien 25.1.2021

Lieber Christian, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Die Zeiten laden zum Prokrastinieren ein. So kommt es mir jedenfalls vor. Tatsächlich merke ich aber auch jeden Abend, was ich heute so geschafft habe. Nur sind das meistens nicht die Dinge, die ich mir vornahm. Ich bastle immer an verschiedenen Vorhaben gleichzeitig bis sich eine Sache herauskristallisiert, die in absehbarer Zeit finalisiert werden könnte. So schaffe ich mir die notwendige Zeit und den Raum fürs Ausreifen. Zum Beispiel konnte ich neulich wieder einen Text für einen Tagungsband fertigstellen. Da gibt es dann fast ausschließlich nur dieses Thema mit allem was dazu gehört, also auch viel zu lesen, Literaturrecherche etc. Mit meiner Musik ist es ähnlich. Erst bis das Mastering vollendet ist und ich mir sicher bin, dass die letzten Prozente bis zur subjektiven Perfektion nicht mehr zu schaffen sind, finde ich Ruhe. Das dauert. Und es grenzt manchmal ein bisschen an Besessenheit. Doch im Moment „prokrastiniere“ ich wieder, obwohl ich doch mehr netzwerken sollte. Stattdessen jeden Tag ein bisschen dies und jenes: neue Konzepte ausdenken und formulieren, Website aktualisieren, Festplatten aufräumen, Computer und Equipment in Schuss halten, an einem Audiomasteringauftrag arbeiten … und natürlich immer Zeit mit meiner Tochter verbringen.

Christian Tschinkel, Komponist, Sounddesigner, Produzent und Klangregisseur

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Natürlich kann ich nicht für andere oder gar alle sprechen. Pauschal würde ich aber sagen: Von der Angst loszukommen – von welcher auch immer! Denn im Frühjahr 2020 war ich einigermaßen überrascht, wie viel Angst in der Welt vorherrscht. Offenbar kam sie zum Vorschein, weil sich viele erstmals und letztendlich mit dem (eigenen) Tod beschäftigt hatten. Ich denke mir, dass man als Künstler weitestgehend damit durch ist. Der Tod (als Abstraktor und nicht als makabere Sterbewahrscheinlichkeit) gehört für mich zum Künstlerleben dazu – allerdings nicht als Gegenspieler, sondern als mächtiger Begleiter, als Motivator, als Wegweiser in andere Dimensionen, vielleicht auch ins Nichts. Ich finde, der Gedanke der Annihilation sollte einem Künstler nicht fremd sein. Und vielleicht wird die Menschheit nun gezwungen in solche Tiefen einer bewussten Auseinandersetzung damit abzutauchen. Der Abbau von Angst würde in Folge auch (gegenseitige) Schuldzuweisungen reduzieren. Persönlich hoffe ich auf das Aufkeimen eines Weltbildes, das Erkenntnisse der Quantenphysik in einer Weise einbindet, die möglichst viele Menschen erkennen lässt, dass sie ihre eigene Wirklichkeit in die Realität „schalten“ und dass das mit der unumstößlichen Objektivität so eine Sache ist. Das Unwort des Jahres 2020 war für mich „Fakt ist …“.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Musik, der Kunst an sich zu?

Wie es Riccardo Muti beim Neujahrskonzert 2021 gesagt hat: Musik und Kunst dienen nicht bloß der Unterhaltung und Zerstreuung, sondern vor allem der mentalen Gesundheit einer Gesellschaft. Das war eine Botschaft für die ganze Welt, an der wir uns fundamental orientieren müssen. Ausübende wissen das ohnehin. Jedoch richtet sich Muti explizit an die Politik, was großartig ist. Darauf aufbauend sollten wir mit kreativer Hingabe unsere Projekte umsetzen aber uns vielleicht still verhalten, wenn sich die Situation gerade nicht stimmig anfühlt. Da bin ich eher fürs Abwarten und Aussitzen, denn auch das ist produktive Zeit. Streaming auf Biegen und Brechen kann kein Ersatz und keine Ablöse sein, auch wenn das derzeit ein gigantisches Experimentierfeld aufreißt. Aber es fehlen einfach die hohen Intensitäten. Und ich setze viel daran nicht die wohligen Glücksgefühle zu vergessen, die sich nach einer gewissen Zeit in einem vollen Konzert- oder Ausstellungsraum einstellen, wenn sich alle Beteiligten (und damit meine ich Ausführende und Publikum) miteinander synchronisieren. In diesem Sinn werden neue hybride und transmediale Formen der Darbietung entstehen und wir können jetzt damit beginnen sie mitzugestalten.

Was liest Du derzeit?

Nichts. Es könnte aber sein, dass demnächst das Buch „Himmels-Körper“ meine Prokrastination unterstützen wird. Der Physiker und Sportwissenschaftler Martin Apolin schreibt darüber, dass wir vor und nach unserem Leben Sternenstaub sind. Die Zeit oder den Zustand dazwischen bezeichnet er als „eine Zauberei des Universums“.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Furchtlos weiter!“, ein Ausspruch von Karlheinz Stockhausen. Ich sage das recht häufig zu meinen Freunden – relativ flapsig, scherzhaft und belustigt – aber im Grunde meine ich es todernst.

Vielen Dank!

Vielen Dank für das Interview lieber Christian, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Musik-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Christian Tschinkel, Komponist, Sounddesigner, Produzent und Klangregisseur

http://www.acousmonuments.space

3.1.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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