Lieber Valentin, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Seit Mitte September bin ich „Stadtschreiber“ in Rottweil und als solcher ständiger Mitbewohner von knapp drei Dutzend Schüler*innen in einem schwäbischen Internat. Alle hier, auch die Pädagog*innen (& ich), sind mehr oder minder pubertär unterwegs – ein leicht schräger Haufen, der mir ans Herz gewachsen ist … Es gibt hier drei Mal am Tag bestes Essen. Mein Zimmer wird gesaugt. Ich kann duschen, so heiß und so lange ich will. Ein Kuraufenthalt im Grunde.
Auch das wie in der Kur: Ich kenne niemanden in der Stadt und lerne niemanden kennen. Bars, Restaurants, Kinos, das Theater: allet zu, und meine eigenen Veranstaltungen sind größtenteils ausgefallen. Zeit und Zwang genug, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Keine Ausflüchte. Es bleibt mir tatsächlich nur das eine.
Die Routine dazu: Aufstehen um 6:30 Uhr. 2 Brote mit Erdnussbutter, bitte, und 1 Marmelade, danke! Und Kaffee! Arbeiten bis 13 Uhr, unterbrochen von Rückenschmerz tilgenden Maßnahmen. Mittagessen. Nochmal an die Arbeit. Später raus. Basketball. Allein oder mit Schüler*innen. Oder in den Wald. Pilze sammeln im Herbst. Pilze, die ich trockne, weil: Kost & Logis inklusive. 18 Uhr Abendessen. Lesen. Tischtennis oder Billard im Freizeitkeller. Dann zu Edeka. Bier und Mate kaufen. Bier ins Internat schmuggeln. Es auf meinem Zimmer trinken. Musik hören. Weiterlesen. Um 22 Uhr fallen schon bald die Äuglein zu.
Dann träumen, bestenfalls.
Möglich, dass ich so zufrieden bin wie lange nicht.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Darüber mag ich mir kein Urteil anmaßen. Was für mich ein Horrorszenario wäre, kann für eine*n Andere*n das pure Glück bedeuten – und umgekehrt. Die Frage ist: Was erwarten wir von der Zukunft? Eine Welt ohne Corona werden wir erleben, ja sogar schon erstaunlich bald, dank Wissenschaft. Aber eine Welt ohne Krise (auch im neutralen Sinn einer unvermittelten umwälzenden Veränderung) wird es nie wieder geben. Also: vermeintliche Einschränkungen als Herausforderungen nehmen. Kritisch entspannt bleiben. Mehr Diogenes aus der Tonne – weniger Henry Ford.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Alles ist relativ und Gesellschaft kein Naturgesetz. Gesellschaft – zunächst einmal im Grunde nichts weiter als ein Konstrukt, das auf bestimmten Ideen basiert. Mythen. Fiktionen, auf die sich eine Gruppe von Menschen geeinigt hat, und die immer wieder neu verhandelt werden. Kunst ist die Sprache, in der diese Verhandlung geführt wird. Sie war von Anfang an dabei – und wird definitiv bis zum Schluss mit von der Partie sein. Insofern brauchen wir uns auch keine Sorgen um sie zu machen – die Kunst wird nicht aussterben. Auch nicht, wenn die AfD (oder irgendein anderer totalitärer Arschlochverein) an die Macht kommt. Kunst ist weder gut noch böse. Kunst ist nicht systemrelevant – nicht in dem Sinne, dass sie benötigt wird, um das System in seiner gegenwärtigen Form zu erhalten. Im Gegenteil, Kunst sorgt für stete Veränderung.
Es ist also vielleicht nicht die Kunst, die „engagiert“ sein muss, nicht die Künstler*innen – sondern die Menschen. Nicht alle Menschen sind Künstler*innen – aber die meisten Künstler*innen sind Menschen. Deshalb kommen sie oft nicht dadrum herum, mit einem politischen Willen zu schreiben, malen, rappen.
Was liest Du derzeit?
David Lynch/Kristine McKenna: „Traumwelten“
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Alles ist heikel und empfindlich, die ganze Menschheit, und die Welt ist unvollkommen.“ (David Lynch)
Vielen Dank für das Interview lieber Valentin, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an KünstlerInnen:
Valentin Moritz_Schriftsteller
https://www.rottweil.de/de/Kultur-Tourismus/Kulturstadt/Literatur-Medien/Stadtschreiber
Foto_privat.
10.12.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.