Eine Matratze. Die Bettwäsche von damals. Wenn Sie erwacht ist die Kindheit um sie. Jeden Tag. Der Spielteppich. Die Kinderküche. Da gibt es kein Fenster und keine Türe mehr. Das Draußen ist weit weg von ihr.
Den Weg in die Erwachsenenwelt hat sie verbarrikadiert mit ihrer Kindheit. Niemand betritt diesen Raum, in dem sie schläft, spielt, träumt. Die Zeit und die Welt um sie aufhält.
Sie will nicht mehr weiter. Zu Arbeit und Aufgabe. Zu Wecker und Stechuhr. Anspruch und Leistung. Bewerbung und Bewertung. Höher und weiter. Nein. Damit ist jetzt Schluss.
Der Zahnputzbecher kommt wieder aus der Kinderküche. Danach wird „Für Elise“ am Keyboard gespielt. Wie damals. Und dann Saxophon. Und dann die Seife. Waschen und waschen. Wegwaschen. Das Erwachsensein. Das Alter. Die Familie. Das Sein und das Nichts. Diese Welt draußen.
Doch dann kehrt die Bilderwelt und die Maschine im Kopf zurück. Schattenbilder und Gespenster des schnellen, zu schnellen Wachsens von allem. Das verlorene Hier und Jetzt.
Lass` mich schreien, singen, lachen, tanzen – spielen.
Wer bin ich eigentlich? Ist es in meiner Kindheit zu finden?…
Hikikomori
In seiner aktuellen Produktion „Hikikomori“ begeistert Regisseur und Theaterdirektor Jakub Kavin mit dem „TheaterArche“ Wien wiederum mit tiefgehender zeitkritischer Bühnenarbeit.
In „Hikikomori“ wird das Phänomen moderner Isolation und Regression exemplarisch zum famosen Solo-Bühnenspiel, das über gegenwärtige weltweite Erfahrungen von „physical distance“ gesellschaftskritisch hinausweist.
„Hikkomori“, Text von Sophie Reyer und Thyl Hanscho, wird zur beklemmend anschaulichen Fragestellung von Identitätsverlust und Fluchtmechanismen modernen Menschseins. Die Inszenierung des inneren Dramas von Isolation in allen Sehnsüchten, Erinnerungskämpfen und Ablenkungsversuchen greift die aktuelle Corona-Krise in ihrer Kernfragestellung nach unserem Menschwerden, Menschsein und Menschbleiben in der Welt schonungslos auf. Was lässt uns wachsen oder scheitern? Was gibt uns Raum und Richtung oder setzt Enge und Isolation? Regisseur Jakub Kavin gibt diese wesentlichen Fragen einer Gesellschaft in der Krise mit und öffnet damit eine wichtige tiefere Reflexionsebene von Psychoanalyse und Kulturkritik. Ein genialer Kunstgriff.
Die Schauspielerin Manami Okazaki begeistert mit einer eindringlichen variantenreichen Darstellung, die vom ersten Moment an in den Bann zieht und staunen lässt. Diese Schauspielerin ist zweifellos eine Bühnenentdeckung des Jahres und wir dürfen gespannt auf ihre weiteren Rollenwege sein.
Hervorzuheben ist auch das Bühnenbild, welches in Ansprache und Ausdruck wesentliche tragende Säule von Spiel und Wirkung ist. Auch hier leisten Bernhardt Jammernegg und Jakub Kavin großartiges.
„Hikikomori“ ist ein fulminanter Theaterstart in einer gesellschaftlichen Ausnahmesituation und setzt in Reflexion und Darstellung Maßstäbe. Theater lebt – und wie!
Hikikomori
Eine TheaterArche Produktion
Schauspiel: Manami Okazaki
Regie: Jakub Kavin
Autor*innen: Sophie Reyer, Thyl Hanscho
Musik: Manami Okazaki
Regieassistenz: Odilia Hochstetter
Bühne und Technik: Bernhardt Jammernegg, Jakub Kavin
Visuals: Jakub Kavin
Gemälde: Hiromitsu Kato (https://hirokato.info/)
Premiere am 29. Mai 2020 um 20 Uhr
- und 30 Mai um 20 Uhr
dann jeweils Donnerstag, Freitag und Samstag bis 4. Juli
also am: 4., 5., 6., 11., 12., 13., 18., 19., 20., 25., 26., 27. Juni jeweils um 20 Uhr
und am
2., 3., und 4. Juli um 20 Uhr.
TheaterArche
Münzwardeingasse 2a, 1060, Wien.
office@theaterarche.at
Walter Pobaschnig, 29.5.2020